Hirndoping mit Hilfe von Aufputschmitteln macht nicht schlauer, sondern allenfalls wacher und konzentrierter. Foto: dpa-Zentralbild

Wenn Koffein nicht mehr hilft, greifen immer mehr Menschen zu Muntermachern, um in anstrengenden Zeiten ihre Leistung zu verbessern. Andere werfen sich Beruhigungsmittel ein.

Stuttgart - Vier Projekte parallel muss Bernd Mal (39) stemmen. Wie der Ingenieur das schaffen soll, weiß er nicht. Schließlich hat auch sein Tag nur 24 Stunden, selbst wenn er nicht mehr schlafen würde. Bernd Mal fühlt sich ausgelaugt, überfordert. Da kommt es dem Ingenieur recht, dass ein Bekannter ihm Ritalin unter die Nase hält. Sein Sohn nimmt den Wirkstoff gegen ADHS, um sich besser konzentrieren zu können. ADHS macht aus Betroffenen hyperaktive Zappelphilippe. „Ritalin ist eine super Sache, werfe ich auch ein. Hilft gegen Müdigkeit und lässt mich durcharbeiten. Mein Akku ist danach wieder voll“, sagt der Bekannte und fügt fast entschuldigend hinzu: „Eltern müssen doch wissen, was ihre Kinder schlucken.“

In Foren im Internet liest man über den Gebrauch von Ritalin ähnliche Aussagen. „Von einer Minute auf die andre merkst du, wie dein Gehirn hochfährt, du bist wissbegierig und voll aufnahmefähig für jeglichen Stoff.“ Oder: „Einmal angefangen, willst du dieses Gefühl immer wieder, stundenlang an einem Skriptum sitzen zu können und nicht gelangweilt zu werden.“

Diese Menschen gehören wie Bernd Mal zu einer kleinen, aber wachsenden Gruppe, die Pillen zur Leistungssteigerung nehmen, um Stress zu bewältigen. Das Phänomen ist bekannt als Hirndoping oder Neuro Enhancement. Die Betroffenen konsumieren Stoffe wie Ritalin, Modafinil gegen die Schlafkrankheit Narkolepsie, Antidementiva gegen Demenz oder Drogen wie Crystal Meth und Kokain. Die Medikamente sind verschreibungspflichtig, die Drogen illegal. Wer sie als Gesunder schluckt, kauft sie bei Angehörigen oder Freunden, im Internet oder auf dem Schwarzmarkt.

„Dabei ist es ein Trugschluss zu glauben, dass die Medikamente schlauer oder cleverer machen“, sagt Hans-Peter Medwed, Psychiater und Leiter der Suchtambulanz im Zentrum für seelische Gesundheit Bad Cannstatt. „Man mag konzentrierter sein und kann länger wach bleiben. Die Grenzen der körperlichen Leistungsfähigkeit lassen sich aber nicht überschreiten.“ Umgekehrt sinke die Leistungsfähigkeit bei denen, die zu viel nehmen. Das lässt sich gut am Kaffeekonsum verdeutlichen: Eine Überdosis macht fahrig. „Selbst bei ADHS-Patienten kehrt sich der beruhigende Effekt durch Ritalin dann um“, sagt Medwed.

Alkohol statt Arztbesuch

Andere Menschen greifen bei Stress zu Beruhigungsmitteln. Das können ebenso Pillen wie Alkohol sein. Die Betroffenen leiden zum Beispiel unter Schlafstörungen, weil sie nicht abschalten können. „Alkohol trinken oft Menschen, die nicht zum Arztgehen wollen“, sagt Medwed, der Wein und Co. „sehr potente Beruhigungsmittel“ nennt: Alkohol ist schnell und fast überall verfügbar, zudem ist er stärker als andere Genussmittel in der Gesellschaft akzeptiert. Medwed stellt fest, dass die Betroffenen nicht selten in einen Teufelskreis geraten: Sie putschen sich auf, können dann nicht mehr schlafen, weshalb sie zum Runterkommen Beruhigungsmittel schlucken.

Da die Medikamente für Krankheiten getestet und zugelassen sind, sind vor allem die Langzeitfolgen bei Missbrauch unklar. Experten halten eine psychische Abhängigkeit für möglich: Man meint, selbst einfache Dinge ohne Pillen nicht mehr bewältigen zu können. Auch Opiate bergen ein Suchtpotenzial, sagt Medwed. Häufig lässt bei Schlafmitteln die Wirkung nach, dieBetroffenen brauchen eine immer höhere Dosis. Amerikanische Forscher haben herausgefunden, dass Ritalin bei Heranwachsenden die Lernfähigkeit und Flexibilität des Verhaltens hemmt. Denn bei ihnen ist ein bestimmtes Zentrum im Gehirn – der präfrontale Cortex – anfällig für Manipulation, weil es noch nicht ausgereift ist.

Grundsätzlich nehmen alle Altersgruppen Pillen, sagt Medwed. „Stress gibt es überall, auch wenn man aus dem Job ausscheidet.“ Der Mediziner bemerkt einen Trend. Wer mit 50 noch nie mit Drogen zu tun hatte, wird auch künftig eher keine nehmen. Jüngere seien dagegen experimentierfreudiger, sagt Medwed.

Keiner weiß, wie viele Menschen sich tatsächlich Pillen gegen Stress einwerfen. Experten befürchten eine hohe Dunkelziffer. „Als Arzt sieht man nur die Süchtigen“, sagt der Psychiater Medwed, nicht aber diejenigen, die sich phasenweise und kontrolliert dopen. Vor dem Oberarzt sitzen meist Menschen, die an Schmerz- und Beruhigungsmitteln hängen, aber keine Quellen für Nachschub finden. „Viele Abhängige haben das Medikament einmal vom niedergelassenen Arzt oder Orthopäden verschrieben bekommen“, sagt Medwed.

Glaubt man Experten wie dem amerikanischen Medizin-Antrophologen Nicolas Langlitz, existieren auch in naher Zukunft keine effektiven Hirndoping-Präparate. Für die optimale Leistungsfähigkeit bleiben nur eine gesunde Ernährung, genug Sport und – Schlaf. „Wenn man chronisch zu wenig schläft, nimmt die kognitive Leistungsfähigkeit ab“, sagt Medwed. Das jeweilige Schlafbedürfnis ist individuell, im Schnitt liegt es bei Erwachsenen zwischen sechs und acht Stunden. Von frei verkäuflichen Ginkgo-Präparaten, die gegen Demenz eingesetzt werden, rät Medwed ab. Ob Ginkgo das Gedächtnis beeinflusst, ist umstritten, Studien zeigen verschiedene Ergebnisse. Die Präparate seien außerdem vergleichsweise teuer.