Sido wettert auf dem Cannstatter Wasen auch gegen die Boulevardpresse und gegen Attila Hildmann. Foto: Lichtgut/Christoph Schmidt

Grimmig, gut gelaunt: Der Rapper Sido hat den Kulturwasen voll im Griff – und teilt mächtig aus. Die Boulevardpresse und ein gewisser Vegankoch bekommen ihr Fett weg.

Stuttgart - Sie sind wieder da, die Livekonzerte – aber die Regeln, nach denen sie beurteilt werden, müssen neu geschrieben werden. Allen Lockerungen zum Trotz bleibt es eine heikle Sache, auf die Bühne zurückzukehren. Die Künstler, die es sich zutrauen, können nicht mit Lightshows, Tänzern, Effekten, Bühnenbildern aufwarten. Sie müssen sich nun messen lassen daran, wie sie mit einer ganz ungewohnten, schwierigen Situation umgehen. Die Fans, die lange Monate im Lockdown waren, sehnen sich trotz allem nach dem Live-Erlebnis. Sie feiern mit ihm einen Hauch von Normalität, der zurückkehrt in ihr Leben. Was bleibt, wenn das Spektakel wegfällt? Das Konzert im Autokino ist eine Herausforderung, die jeder Künstler anders nimmt.

Sido ist einer, der nicht um den Brei herumredet, der nichts beschönigt. „Wir leben in beschissenen Zeiten“, sagt er, am Montagabend auf dem Cannstatter Wasen. „Lasst uns 2020 einfach streichen.“ Aber Sido, nur manchmal erklärtermaßen misanthropisch gestimmt, billigt der Menschheit zumindest eines zu: „Wir können aus jeder Situation das Beste machen, was möglich ist.“ Und wie das geht, das will er auf dem Wasen offenkundig zeigen – grimmig, gut gelaunt, mit großer Klappe.

Der Wasen hupt im Chor

Am Montag gibt es außer Corona einen anderen guten Grund, im Auto sitzen zu bleiben – es regnet. Da steht also ein großer Fuhrpark, aus dem nur ab und zu ein Arm hervorragt und im Hip-Hop-Rhythmus auf und ab geht. Wie Sido dieses Publikum in kürzester Zeit in den Griff, in Fahrt bekommt, das ist ein Kunststück, ein Lehrstück aus der Corona-Zeit. Keine 15 Minuten dauert es, und der Wasen hupt im Chor oder lässt die Lichthupen blitzen, die Warnblinkanlagen leuchten – Sido gibt Handzeichen, Sido dirigiert. Das Ergebnis ist phänomenal: Als der Rapper nach 100 Minuten schließlich von der Bühne geht, donnern die Hupen minutenlang. Davor, als er seine Rotlichtballade „Carmen“ singt, hupt Stuttgart zum Refrain mit punktgenauem Einsatz.

Sido tritt auf in Schwarz, mit Sonnenbrille, roter Wollmütze, leuchtend rotem Mikrofon. Hinter ihm DJ Desue, an seiner Seite, später dann, Adesse und Karen Firlej an den Mikrofonen. Er startet mit dem Song „Wie Papa“ von seinem jüngsten Album, erschienen Ende September, das, ausgerechnet, den Titel „Ich und keine Maske“ trägt.

Eigentlich heißt er Paul Hartmut Würdig, ist 40 Jahre alt im November 2020 und mehrfacher Vater mittlerweile. Sido wandelte sich vom Gangsta-Rapper zu einem nachdenklichen und moralischen Chronisten der Straße; viele Songs zeugen beim Stuttgarter Konzert davon. „Jedes Geheimnis“ trägt die Melodie einer Spieluhr mit sich herum, und „Pyramiden“ ist für Sido eine leider unterschätzte Single – „ich glaube, dass dieser Song nie besser gepasst hat, als jetzt, hier, heutzutage“. Sido singt mit Karen Firlej: „Wir müssen nur daran glauben, wir nehm’n die Scherben und die Funken, die uns übrig blieben.“

Witze über die „Bonzis“

Aber Sido, der Nachdenkliche, versteht sich gut mit Sido, dem Bissigen, Versauten, Boshaften. Manchmal, nicht selten, hält er kurz inne, sagt „Der Onkel muss mal frische Luft einatmen“ und zündet sich etwas an, vermutlich eine Zigarette. Dann, etwas heiser für Sekunden: „Mal ehrlich – wer von euch ist heute hier wegen mir?“ – großes Hupkonzert. „Und wer von euch ist hier, weil er einfach mal wieder raus wollte? David Guetta wär zwar besser gewesen, aber Sido ist auch okay, Hauptsache raus?“ – ganz kleines Hupkonzert. „Versteh ich“, sagt Sido. „ich wär sogar zu Oliver Pocher gegangen, so langweilig ist mir zu Hause!“

Ein Vegankoch, Verschwörungstheoretiker und die Boulevardpresse bekommen von Sido nebenher eingeschenkt: „Man hört aus jeder Ecke irgendwas zu Corona“, sagt er. „Am Ende des Tages ist das alles Spekulation, wir wissen gar nix. Also, tut mir einen Gefallen: Glaubt an was ihr wollt – aber hört nicht auf Attila Hildmann!“

Sido ist sich sicher: In vielen Jahren, sagt er, werde man noch sprechen über die Zeit, in der alle zu Hause bleiben mussten, bis „ein paar findige Wissenschaftsrapper“ die Autokinokonzerte erfanden. Er tut so, als wolle er gehen, nachdem er „Astronaut“ gesungen hat, aber er bleibt. Er tut so, als wollte er ein gewisses Lied nicht spielen („Ich spiele das nur noch für richtig perverse Schweine“), aber dann fällt ihm ein, dass er in Stuttgart ist, und er besinnt sich. Er witzelt kräftig über die „Schrottis“ und die „Bonzis“, die dünnen und die dicken Autos vor ihm – er geht schließlich doch, nach 25 Songs, einer erstaunlichen Corona-Show, und der Wasen leuchtet für ihn.