Schwierige Situation für Blinde: am Böblinger Busbahnhof Foto: factum/Simon Granville

Die Corona-Vorschriften sind für sehbehinderte Menschen eine große Umstellung: Vor allem beim Einkaufen und im öffentlichen Nahverkehr stößt Martin Stürner auf Probleme.

Böblingen - Als die Busfahrer die vordere Türe nicht mehr öffneten, stand Martin Stürner vor einem Problem. Der Einstieg zur Fahrertüre ist an behindertengerecht umgebauten Bushaltestellen mit einem der weißen Aufmerksamkeitsfelder für Blinde gekennzeichnet. Wo sich die anderen Türen des Busses befinden, kann der 56-Jährige nur ertasten. Während die Busfahrer auf diese Weise vor eine Infektion mit dem Coronavirus geschützt wurden, musste Martin Stürner die neuen Regeln brechen. „Ich kann nicht Abstand halten“, nennt er ein Beispiel – weil er schlichtweg nichts sieht. Reinhard Hackl, der Beauftragte für Menschen mit Behinderung im Landkreis Böblingen, ruft deshalb dazu auf, blinden und sehbehinderten Menschen mehr Hilfe anzubieten.

Mit dem Händen vorantasten

Im Nahverkehr muss sich Martin Stürner mit den Händen vorantasten – erst, um die richtige Türe zu finden, und dann, um herauszufinden, wo ein Sitzplatz frei ist. „Da habe ich keine andere Wahl“, sagt er. Vorsichtshalber fühlt er mit den Handrücken statt mit den Fingern. Aus Versehen hat er schon kleinen Kindern in das Gesicht gefasst, die dann oft weinen. Hinweise von Mitfahrern nimmt er daher dankbar an. „Hier können Sie sich hinsetzen“, bringt zwar weniger, weil der Blinde schließlich nicht weiß, wo „hier“ ist. „Vor Ihnen rechts wäre frei“ ist dagegen die richtige Art und Weise zu helfen.

Dass es neuerdings Schlangen vor Geschäften gibt, ist für Martin Stürner auch eine Umstellung. Oder dass nur eine bestimmte Personenzahl in einem Laden zugelassen ist. Er ist darauf angewiesen, dass Mitmenschen ihn darauf aufmerksam machen. Kürzlich war er in der Apotheke, und ein anderer Kunde wollte ihm sagen, wann er dran ist. Doch der Mann vergaß es. Dann haben ihn die Angestellten irgendwann hineingerufen. Beschimpft worden ist er bislang noch nicht, weil er die Regeln nicht einhalten kann. Aber als Leiter der Böblinger Bezirksgruppe im Blindenverband hat er von Leidensgenossen gehört, dass sie sich „schlechte Bemerkungen“ anhören mussten.

Rund 320 blinde und sehbehinderte Menschen leben im Kreis Böblingen. Reinhard Hackl hat eine Bitte, wie ihnen zu helfen ist: mit ihnen sprechen und aufeine Schlange hinweisen oder auf den Spender für Desinfektionsmittel. Und sollte der Abstand nicht eingehalten werden, gilt das Gleiche. Hinweiszettel könnten vorgelesen werden, schlägt er vor. „Beim Einkaufen wäre mehr Gelassenheit der Beschäftigten und der Mitmenschen gegenüber Menschen mit Sehbehinderung hilfreich“, wünscht sich Reinhard Hackl unter anderem.

Geboren mit einer Netzhautdegeneration

Martin Stürner ist mit einer Netzhautdegeneration auf die Welt gekommen. Seit seinem 15. Lebensjahr ist er praktisch blind. „Mein Stock ist mein Erkennungszeichen“, sagt er. Von sich aus bieten ihm jedoch die wenigstens Menschen Hilfe an. Im Umgang mit Blinden seien die meisten Leute unsicher, ist seine Beobachtung, in der Corona-Pandemie hätten sie zusätzliche Berührungsängste.

„Die Maske beeinträchtigt mich auch sehr“, zählt er noch ein Problem auf. Er selbst hört damit schlechter und kann andere noch viel schlechter verstehen. Ins Restaurant, in die Therme oder in Supermärkte geht Martin Stürner nur in Begleitung. Er sei ein Typ, der gerne unterwegs sei, sagt der Telefonist, der seit 1984 im Landratsamt arbeitet. Die Zeit des Kontaktverbots seien für ihn „heftige Monate“ gewesen, berichtet er und schwärmt vom ersten Ausflug ins Blühende Barock. Angst vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus hat der 56-Jährige nicht. „Ich passe auf, ich mache mich nicht verrückt“, sagt er. Weil er seine Hände zur Orientierung braucht, hat er es sich längst abgewöhnt, sich ins Gesicht zu fassen.