Schwere Vorwürfe erheben mehrere kleinere Parteien und Gruppen im Esslinger Gemeinderat gegenüber den großen Fraktionen und Oberbürgermeister Matthias Klopfer. Warum sie sauer sind, formulierten sie mit scharfen Worten in einem offenen Brief.
Seit Wochen schwelt ein Streit in Esslingen, der zunehmend die politische Kultur im Gemeinderat in Frage stellt: Mehrere kleine Fraktionen und Gruppen werfen den großen Fraktionen vor, gemeinsam mit Oberbürgermeister Matthias Klopfer Hinterzimmerpolitik zu machen und einen Teil der gewählten Vertreter vor vollendete Tatsachen zu stellen.
Entzündet hat sich der Streit an einem Tag Anfang April, als Klopfer und die großen Fraktionen allen anderen mitteilten, dass man ein fünftes Dezernat – und damit auch einen fünften Bürgermeister – installieren wolle. Besprochen wurde dies nicht im öffentlichen Plenum, sondern in einer Sitzung des Ältestenrats. Die kleineren Fraktionen und Gruppen wurden, so der Bericht von mehreren Teilnehmern, hinauskomplimentiert, damit unter den größeren Fraktionen besprochen und abgestimmt werden könne, wie man am besten die Öffentlichkeit informiert. Nur die „profitierenden großen Fraktionen“ sollten im Sitzungssaal verbleiben.
Dazu muss man wissen: Der Ältestenrat ist ein beratendes Gremium, das unter Ausschluss der Öffentlichkeit „wichtige Angelegenheiten“ und die Tagesordnung der kommenden Gemeinderatssitzung vorbespricht. Das Gremium besteht aus dem Oberbürgermeister und Vertretern der Fraktionen, Fraktionsgemeinschaften und Ratsgruppen.
Von der neuen Stelle profitieren nur die großen Parteien in Esslingen
Profitieren soll allen voran die CDU, die ein Vorschlagsrecht bekommen soll für die neue Spitzenposition, die nach Angaben der Stadt rund 180 000 Euro pro Jahr kostet – das sind fast anderthalb Millionen Euro in acht Jahren. Acht Jahre – das ist der Zeitraum, in dem ein Bürgermeister in Baden-Württemberg ins Amt gewählt wird.
Aber auch die anderen größeren Fraktionen, die nicht den Saal verlassen sollten, erwarten einen Gewinn: Sie alle haben bereits einen von ihnen vorgeschlagenen Bürgermeister in der Rathausspitze. Der Erste Bürgermeister Ingo Rust hat wie Oberbürgermeister Matthias Klopfer ein SPD-Parteibuch (drittstärkste Fraktion), Yalcin Bayraktar, unter anderem zuständig für Ordnung und Soziales, kommt von den Grünen (zweitstärkste Fraktion) und Hans-Georg Sigel, unter anderem verantwortlich für Bauen und Stadtentwicklung, kam auf Vorschlag der Freien Wähler (viertstärkste Fraktion) ins Amt.
Esslingen: Fünf Bürgermeister? Streit um Machtverteilung im Rat
Da die CDU als größte Fraktion ebenfalls einen Bürgermeister beansprucht, gibt es an dieser Stelle nur zwei Möglichkeiten: Entweder ersetzt ein neuer CDU-Bürgermeister einen anderen oder – und diese Entscheidung ist offenbar unter Ausschluss eines Teils des Gemeinderats getroffen worden – es wird ein weiterer Bürgermeister installiert. Damit hätte Esslingen sowohl in Baden-Württemberg als auch deutschlandweit eine Ausnahmestellung: Selbst der Stadtverwaltung ist keine Stadt in dieser Größenordnung bekannt, die sich fünf Bürgermeister leistet.
Die Verwaltung begründet die fünfte Bürgermeisterstelle damit, dass Esslingen mit einem städtischen Klinikum, einem städtischen Verkehrsbetrieb und mit insgesamt rund 5000 Mitarbeitenden mehr Aufgaben als vergleichbare Städte habe. Mit dem zusätzlichen Dezernat sollen laut Klopfer „zukunftsweisende Impulse für eine leistungsfähige und bürgernahe Verwaltung“ gesetzt werden.
Stehen parteipolitische Interessen über dem Gemeinwohl in Esslingen?
Die kleineren Fraktionen und Gruppen vermuten hingegen, dass in diesem Fall „parteipolitische Interessen“ über „einer sachlichen Entscheidung für das Gemeinwohl“ stehen.
Die Autoren des offenen Briefs stören sich aber nicht nur an dem Was, sondern auch an dem Wie. In einem offenen Brief werfen die Fraktionsgemeinschaften FDP/Volt und Linke/FÜR sowie die Gruppe WIR/Sportplätze den größeren Fraktionen von CDU, Grünen, SPD und Freien Wählern „geheime Absprachen“ vor. „Dieser intransparente Vorgang bedeutet de facto, dass ein erheblicher Teil des Gemeinderats systematisch von den Beratungen ausgeschlossen wurde.“
Die Aufforderung, die Sitzung des Ältestenrats zu verlassen, sehen die Verfasser des offenen Briefs als einen „einmaligen Vorgang, den es in dieser Form bisher nicht gegeben hat“. Kritisch angemerkt wird ferner, dass die Unterlagen zur Dezernatsaufteilung den größeren Fraktionen deutlich früher vorgelegen hätten als den Parteien und Gruppen, die nicht „profitieren“.
Vertrauenskrise im Esslinger Gemeinderat: Gibt es einen Ausweg?
Die Briefeschreiber kommen zu dem Schluss: „Mit dem bisherigen Vorgehen ist das Vertrauen zerrüttet; eine ergebnisoffene Diskussion im Ausschuss und im Gemeinderat erscheint nicht mehr möglich. Im Gegenteil: Der Beschluss steht faktisch bereits fest, noch bevor das Thema überhaupt öffentlich im Gremium beraten wurde.“
Der Brief endet mit der Aufforderung, das Thema der fünften Bürgermeisterstelle „unverzüglich in einen transparenten, öffentlichen Prozess zu überführen, anstatt Entscheidungen vorab im kleinen Kreis zu treffen“. Darüber hinaus bedürfe es eines neuen Stils der Zusammenarbeit im Gemeinderat, „der von Transparenz, Respekt und der Einbindung aller demokratischen Fraktionen geprägt ist“. Nur durch Offenheit und Fairness auf Augenhöhe könne verlorenes Vertrauen – sowohl innerhalb des Gremiums als auch gegenüber der Bürgerschaft – wiedergewonnen werden.
Der Ältestenrat
Aufgaben
Der Hinterzimmer-Streit entzündete sich nach dem Ausschluss von Mitgliedern aus einer Sitzung des Ältestenrats. Der Ältestenrat berät den Oberbürgermeister in Fragen der Tagesordnung und des Gangs der Verhandlungen im Gemeinderat. Der Geschäftsordnung für den Gemeinderat zufolge obliegt es ihm ferner, „wichtige Angelegenheiten vorzubesprechen, eine freie Verständigung zwischen den Fraktionen über Zeit und Art der Behandlung herbeizuführen, die Besetzung der Sitze in den gemeinderätlichen Ausschüssen nach den Wahlen zum
Zusammensetzung
Gebildet wird der Ältestenrat aus dem Gemeinderat heraus. Er besteht aus dem Oberbürgermeister als dem Vorsitzenden und den Vertretern der Fraktionen beziehungsweise Fraktionsgemeinschaften und Gruppen. Jede Fraktion oder Fraktionsgemeinschaft und jede Gruppe hat einen Sitz im Ältestenrat. Bei mehr als sechs Mitgliedern hat eine Fraktion oder Fraktionsgemeinschaft das Recht, eine weitere Vertretung zu entsenden. Die Sitzungen des Ältestenrats sind nicht öffentlich.