Marteza Mozafari ist ein Vorbild für viele Geflüchtete: Der 23-Jährige hat einen Job, spricht Deutsch und hilft in der Fahrradwerkstatt. Foto: factum/Simon Granville

Vor knapp fünf Jahren öffnete in Sindelfingen eine Fahrradwerkstatt, in der Flüchtlinge arbeiten. Seither haben sie 4000 Räder repariert. Sechs haben einen Job gefunden, fast alle eine Wohnung. Doch es gibt nicht nur Gewinner.

Sindelfingen - Im Untergeschoss der alten Eschenriedschule in Sindelfingen riecht es nach Öl, Staub und Keller. Kinder laufen an bunt bemalten Wänden vorbei, und in allen Räumen stapeln sich Fahrräder: Räder für Kinder, Cityräder, Räder mit gebogenem Lenkrad und sportliche, mit denen man allen davon fährt.

Im Sommer 2015, auf dem Höhepunkt des Flüchtlingszustroms nach Deutschland, öffnete der Arbeitskreis Asyl die Do-It-Yourself Fahrradwerkstatt in Sindelfingen. Eine Einrichtung, wie sie in Deutschland damals hundertfach zu finden war. Hier lernten Syrer, Afghanen und Iraner, Fahrräder zu reparieren, und kauften das erste Rad ihres Lebens. Viele von ihnen sind seither wieder fortgegangen. Sie fanden Jobs und Wohnungen. Mindestens drei sind geblieben. Woche für Woche schenken sie Fahrrädern ein zweites Leben, wie sie hier flachsen. Das Fahrrad seinerseits gibt etwas zurück, das für manche vielleicht nur mit Muskelkraft, Ausdauer und einem Nimbusschlüssel zu schaffen ist: die Hoffnung auf Alltag.

Dr. Marteza, das Vorbild

Marteza Mozafari bückt sich über den Patienten: ein platter Reifen eines alten Pegasus-Modells. Es gibt nur wenige in der Werkstatt, die so flinke Hände haben wie Dr. Marteza. Dr. Thomas, der Leiter, ist kräftiger, Dr. Ashraff kennt sich mit der Beleuchtung aus, weswegen ihn die anderen auch Professor Licht nennen. Aber fast niemand repariert einen Platten in so kurzer Zeit wie Dr. Marteza. Zwei Handgriffe genügen, dann springt der Gummireifen wie von selbst von der Felge.

2017 kam Mozafari alias Dr. Marteza in die Werkstatt. Ein Jahr vorher flüchtete er aus dem Iran nach Deutschland. Wenn es in der Werkstatt einen Konflikt gibt, fällt schnell sein Name. Der 23-Jährige ist neben seinen Fahrradfertigkeiten der Brückenbauer der Werkstatt, weil er fünf Sprachen spricht und zwischen den Teilnehmern vermittelt. „Ich will alles lernen“, sagt er von sich.

In der Werkstatt ist Mozafari einer der wenigen, von dem Ökonomen sagen würden, er habe es geschafft: Er spricht ein nahezu fehlerfreies Deutsch, er hat eine Wohnung und seit mehr als einem Jahr eine Ausbildungsstelle als Hotelfachmann.

Eine Ausnahme ist er damit keineswegs. Etwa 36 Prozent der Menschen, die seit 2014 als Geflüchtete nach Deutschland kamen, haben heute eine Festanstellung und zahlen Steuern, wie das Arbeitsamt weiß. In der Region Stuttgart sind das aus den acht Hauptfluchtländern etwa 13 000 Menschen, davon 1500 in der Ausbildung. Wenn man Hilfstätigkeiten dazuzählt, geht heute mehr als jeder zweite Geflüchtete einer Beschäftigung nach.

Eine Entwicklung, die auch Experten positiv stimmt. „Die Arbeitsmarktintegration erfolgt schneller als bei Geflüchteten früherer Jahre“, bilanziert das Arbeitsamt. Andererseits zeigen die Zahlen auch: Es gibt nicht nur Gewinner.

Dr. Aman, der Sanfte

Auf dem Namensschild von Aman K., der eigentlich anders heißt, steht Dr. Aman. In der Werkstatt ist er ein Alleskönner. Kein Wunder: Vor seiner Flucht 2016 arbeitete er bereits in einem Fahrradladen in Teheran. Dr. Aman hat sanfte Gesichtszüge und es hat etwas Andächtiges, wenn er mit einem Schraubschlüssel hantiert. Vielleicht würden manche sagen, es sehe langsam aus, langsamer als bei Dr. Noam, zu dem Leute auch Bohrmaschine sagen, weil er so schnell ist. Das ist Dr. Aman nicht. Das mit den Namensschildern ist übrigens eine witzige Sache: Die Fahrradwerkstatt sieht sich scherzhaft als ein Krankenhaus für Räder. „Wir reanimieren sie“, sagen sie hier. Auf den Namenstafeln haben sich die Teilnehmer deshalb als Ärzte und Doktoren tituliert und rufen sich auch so.

Dr. Aman pflegt heute ein Damenrad, bei dem die Gänge rattern. „Das Schwierige ist, zu verstehen, wo das Problem liegt“, sagt er auf Persisch – und Dr. Marteza übersetzt. Er dreht am Pedal und lauscht.

Wenn man von Geflüchteten spricht, die es auch in den nächsten Jahren in Deutschland schwer haben werden, dann denken viele an Leute wie Aman K. In Afghanistan wurde er verfolgt. Er besuchte keine Schule und kann auch heute weder lesen noch schreiben. Es ist unwahrscheinlich, dass er in nächster Zeit eine Ausbildung beginnen kann. Mit einem 450-Euro-Job stockt er das Einkommen seiner Familie auf. Sein Sohn ist schwer krank. Trotzdem ist der 30-Jährige mit dem bescheidenen Leben in einer Flüchtlingsunterkunft zufrieden. „Deutschland ist ein sicheres Land, jeder bekommt hier eine Perspektive“, sagt er. Wenn er einmal die Sprache beherrscht, will Dr. Aman in einem Laden Fahrräder verkaufen.

Elizabeth, die Helferin

Wie bastelnde Kinder hocken die Teilnehmer bis spät in die Nacht auf dem Flurboden, ziehen Kabel, drehen Schrauben.

An einem Tisch daneben sitzt Elizabeth Geisser, keine Doktorin, sondern ehemals Englischlehrerin, heute pensioniert. Mit ihrem Mann Thomas gründete sie die Werkstatt. „Weil wir helfen wollten“, sagt sie. Auf dem Tisch vor ihr steht heißes Wasser in einem Thermobehälter, daneben eine rote Kasse. Früher haben sie die gespendeten Fahrräder verschenkt. Weil sie aber wie gebrauchte Taschentücher am Straßenrand abgeladen wurden, verlangt die Werkstatt heute ein paar Euro zurück. Seit Beginn herrscht zwischen den Eheleuten Geisser eine gesunde Arbeitsteilung: Thomas bringt den Teilnehmern technische Fertigkeiten bei, Elizabeth ordnet den Laden.

Eine Frau mit Kopftuch und Flipflops kommt in den Keller. An der Hand hält sie ein etwa 10-jähriges Mädchen. Die Frau spricht energisch auf Dari, Dr. Marteza schüttelt den Kopf und übersetzt für Elizabeth. „Alleine die Stützräder sind teurer“, ruft sie der Frau entgegen. Es stellt sich heraus, dass sie weniger zahlen will als die Werkstatt für das Kinderrad ihrer Tochter verlangt. Nein, nein, das geht nicht, sagt Elizabeth. Das kleine Mädchen fängt an zu weinen, ihre Mutter geht davon. „Es gibt Regeln“, ruft einer.

Ein bisschen stolz auf das Erreichte sind die Geisser schon: 4000 Fahrräder wurden hier seit 2015 repariert. Sechs Mitarbeiter haben sie in Berufe vermittelt, drei von ihnen in Fahrradbetriebe vor Ort. „Der Integrationsprozess wird noch mindestens zwei Generationen dauern“, sagt Elizabeth Geisser. Noch immer vergeht kaum ein Tag, ohne dass die 75-Jährige manchem Teilnehmer hilft. Sie geht mit ihnen auf Ämter, telefoniert mit Ärzten. Sie sagt: „Deutschland ist ein kompliziertes Land. Nicht jeder kommt hier zurecht.“ Später am Abend bringt die Frau mit dem Kopftuch die verlangten 35 Euro doch noch.