Tausende von Kindern und Jugendlichen in Deutschland kümmern sich um ihre chronisch kranken Eltern – und sind dabei selbst gefährdet, psychisch auffällig zu werden. Die Techniker-Krankenkasse und die Kassenärztliche Vereinigung bieten betroffenen Familien therapeutische Beratungen an.

Stuttgart - Wenn Antje Irslinger gute Tage hat, dann ist sie eine Mutter wie aus dem Bilderbuch: Sie kontrolliert die Hausaufgaben der Kinder, hört sich ihre Sorgen an und spielt mit ihnen. An schlechten Tagen dreht sich der Familienalltag um: Dann kümmern sich auch die elfjährige Tochter und der 18-jährige Sohn um die Mutter, übernehmen Aufgaben im Haushalt oder erledigen auch mal den Einkauf. Die 50-Jährige ist an multipler Sklerose (MS) erkrankt. „Das bedeutet, dass ich körperlich nicht in der Lage bin, all die Aufgaben zu übernehmen, die normalerweise Mütter erledigen“, sagt sie.

Aufgrund der Krankheit ist Antje Irslinger auf den Rollstuhl angewiesen, hinzu kommt oft eine bleierne Müdigkeit und Kraftlosigkeit, die den Alltag an manchen Tagen oft unüberwindbar erscheinen lassen. „Mein Mann und ich versuchen alles, um den Kindern ein möglichst normalen Alltag zu ermöglichen“, sagt Antje Irslinger. „Dennoch ist es für sie sicher nicht einfach, ihre Mutter so hilfebedürftig zu sehen.“

Die Familie Irslinger, die in der Nähe von Tübingen wohnt, steht beispielhaft für viele Tausend andere Familien hierzulande, in denen ein Elternteil chronisch erkrankt ist – sei es an neurologischen Krankheiten wie MS oder Parkinson, an Folgen von Schlaganfällen oder an einer Krebserkrankung. Teilweise plagen den Vater oder die Mutter auch psychische Leiden wie eine Depression oder sie sind suchtkrank. Schätzungen der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg gehen im Südwesten von rund 500 000 Kindern aus, bei denen ein Elternteil auf Hilfe angewiesen ist.

Häufig unterschätzen die Eltern die seelische Belastung ihrer Kinder.

Wie belastend dies für Kinder sein kann, hat schon 2009 eine Studie des Instituts für Pflegewissenschaft der nordrhein-westfälischen Universität Witten/Herdecke gezeigt: Zum einen ist es die Angst vor Ausgrenzung ist, mit der die betroffenen Heranwachsenden zu kämpfen haben: Sie wollen dazugehören und nicht anders sein als andere Kinder. Andererseits wissen sie um die Krankheit der Mutter oder des Vaters und wie sie darunter leiden. Hinzu kommen die Verlustängste, die insbesondere Kinder von krebskranken Eltern zu schaffen machen: „Die Erkenntnis, dass Vater oder Mutter sterben können – und das, bevor man selbst in der Lage ist, für sich selbst zu sorgen – ist für die Betroffenen eine Katastrophe“, sagt Norbert Metke, Vorstandsvorsitzender der KV Baden-Württemberg.

In solchen Situationen kommt es auf den richtigen Umgang der Eltern mit den Kindern an. Sonst droht die ungewöhnliche Belastung zur Hypothek für das spätere Leben zu werden: So haben Kinderpsychologen am Hamburger Uniklinikum herausgefunden, dass viele Kinder chronisch Kranker ohne professionelle Hilfe deutliche Verhaltensauffälligkeiten zeigten. Es kann zu schulischen Problemen und Anzeichen sozialer Isolation und sogar depressive Verhaltensweisen kommen. Kinder merken, wie die Krankheit die Eltern belastet und versuchen sich dann von ihrer starken Seite zu zeigen. Sie halten ihre eigenen Sorgen von ihnen fern, so die Forscher. Die Folge: Häufig unterschätzten die Eltern daraufhin die seelische Belastung ihrer Kinder.

Wissenschaftlich gesicherte Therapieprogramme gibt es wenige. Und wenn, dann setzen sie meist erst dann ein, wenn die Kinder von chronisch Kranken selbst auffällig werden. Vorbeugen soll nun ein Beratungsangebot der KV Baden-Württemberg und der Techniker Krankenkasse helfen: Schon kurz nach der Diagnosestellung, haben Eltern mit chronischem Leiden die Möglichkeit, von Therapeuten Tipps und Ratschläge zu erhalten, wie sie ihre Kinder auf die neue Situation altersgerecht vorbereiten können. „Die Kinder können so lernen, das Verhalten der Eltern nachzuvollziehen, ohne irrationale Schuldgefühle zu entwickeln“, so Norbert Metke von der KV. Nach Bayern ist Baden-Württemberg das zweite Bundesland, wo es ein solches vorbeigendes Angebot für Kinder chronisch kranker Eltern. Zunächst können es im Südwesten TK-Versicherte wahrnehmen, aber auch andere Kassen seien als Partner willkommen, so Metke.

Es fehlt bislang an Experten, die den Familien zur Seite stehen

Auf diesen Schneeballeffekt hoffen insbesondere die Betroffenen-Verbände, wie etwa der Landesverband der Deutschen Multiplen Sklerose Gesellschaft Amsel: „Wir erfahren an unserer Veranstaltungen stets, wie sich Betroffene Väter oder Mütter kurz nach der Diagnosestellung allein gelassen fühlen“, sagt Adam Michel vom Landesverband der Amsel. „Es fehlt bislang an Experten, die den Familien zur Seite stehen und Hilfestellungen geben, wie das Leben mit einer chronischen Krankheit weitergehen soll.“

Auch Antje Irslinger findet es wichtig, dass Familien mit chronisch krankem Elternteil psychologische Hilfe erhalten. Sie hat es damals ohne geschafft. „Aber leicht war es nicht immer“, sagt die Tübingerin. Zwar sind ihr Mann und sie von vorneherein offen mit der Krankheit umgegangen – sowohl den Kindern, als auch ihrem Umfeld gegenüber: Kollegen, Freunde, Lehrern und natürlich auch die Freunde ihrer Kinder wissen über die MS-Erkrankung der Mutter Bescheid. Und doch kommt es auch heute noch zu Situationen, wo die Krankheit das Familienleben belastet. Dann hakt Antje Irslinger nach, wie die Kinder denn das Leben mit einer kranken Mutter im Rollstuhl so finden. „Sie sagen dann immer: Alles gut!“, sagt sie. „Aber ich glaube, da sind sie nicht immer ganz ehrlich zu mir.“

Beratungsangebote:

Das Beratungsangebot der Techniker Krankenkasse und der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg ist für Versicherte kostenlos. Zusammen mit Therapeuten werden Strategien für die gesamte Familie zum Umgang mit der Krankheit entwickelt. Für die Erstberatung sind zwei Einzeltermine vorgesehen, bei Bedarf kann bis auf sechs weitere Beratungen aufgestockt werden: www.tk.de

Hilfe für Kinder und Jugendliche, die mit einem kranken Angehörigen zusammenleben, gibt es auch von der Universität Witten/Herdecke: www.kinder-krankereltern.de. Dort gibt es Informationen über Krankheiten und eine Suchmöglichkeit nach Beratungsstellen und Selbsthilfegruppen, Chat und Forum, Büchertipps.

Die Bundesarbeitsgemeinschaft „Kinder psychisch erkrankter Eltern“ bietet Infos, Links und Literaturhinweise sowie eine Liste mit Einrichtungen.

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