Verzweifelte Pflegebedürftige können sich von Ende Juli an bei einer zentralen Telefonberatung melden Foto: dpa

In der Pflege, ob im Heim oder zu Hause, sind Übergriffe und Drohungen an der Tagesordnung. Einer Hochrechnung zufolge kam das innerhalb eines Jahres in Stuttgart 540-mal vor. Verlässliche Zahlen fehlen.Die zentrale Notrufnummer 0711/23 18 29 55 soll helfen – bevor es zur Gewalt kommt.

Stuttgart - „Hau ab!“, „Ich bring’ dich um!“, „Lass los, oder du kommst ins Heim!“, Schläge, Bisse, Grobheiten oder zermürbendes Links-liegen-Lassen – Gewalt in der Pflege hat viele Gesichter, aber zumeist einen Grund: die Überforderung der Pflegekräfte oder der pflegenden Angehörigen.

So vielfältig Übergriffe sein können, so breit gestreut sind die Zuständigkeiten bei Ämtern und Institutionen. Seit dem Jahr 2010 gibt es deshalb bei der Stadt Stuttgart einen Runden Tisch zum Thema Gewalt in der häuslichen Pflege, der viermal im Jahr zusammenkommt. Er hat nun eine Erstanlaufstelle für Beschwerdeführende gegründet. Für Menschen in der häuslichen Pflege wird es – ein Jahr später als geplant – eine Erstanlaufstelle geben, die von Ende Juli an die zentrale Notrufnummer 07 11 / 23 18 29 55 schaltet.

Dass die Federführung der Erstanlaufstelle bei der Abteilung für Chancengleichheit angesiedelt ist, haben die Stadträte im Sozialausschuss mit Skepsis aufgenommen. „Wenn es um Prävention geht, geht es doch vor allem um die Unterstützung der überforderten Betroffenen“, wandte Hannes Rockenbauch von der Fraktionsgemeinschaft SÖS-Linke-plus ein, und auch Marita Gröger (SPD) forderte: „Das Thema braucht die Nähe zu den pflegenden Diensten.“

Amtsleiterin Ursula Matschke sieht diese Nähe schon dadurch gegeben, dass ihre Abteilung „mit allen Beteiligten des Runden Tisches zusammenarbeitet“. Dazu gehören gerontopsychiatrische Beratungsstellen, Gesundheitsamt, sozialpsychiatrische Dienste, Stadtseniorenrat und andere Fachdienste bis hin zum Amt für öffentliche Ordnung. Die fachliche Qualität sei durch die enge Zusammenarbeit mit der städtischen Abteilung Leben im Alter (LiA) und die zwei Pflegestützpunkte gegeben, die mit Unterstützung der Krankenkassen eingerichtet worden sind.

Die Pflegestützpunkte sind mit zwei Fachkräften besetzt und künftig Erstinformationsstelle für Menschen, die sich mit dem Thema Pflege befassen müssen. Künftig sind die beiden Mitarbeiterinnen mit einem Telefon ausgestattet und nehmen unter der genannten Notrufnummer Anfragen, Klagen und Beratungswünsche entgegen.

Welche Probleme dort auflaufen können, umreißt die Chancenbeauftragte Matschke wie folgt: „Das kann ein Nachbar sein, der die Nachbarin seit Tagen nicht mehr gesehen hat, das kann eine ambulante Pflegerin sein, die körperliche Male feststellt, das können Angehörige wegen Pflegemängeln sein.“

Die Mitarbeiterin des Pflegestützpunkts muss die Anrufe dokumentieren und die passende Institution einschalten. Das kann der Hausarzt oder Sozialdienst sein, das können Angehörige, Sozialamt oder im schlimmsten Fall die Polizei sein. „Wichtig ist, dass wir rechtzeitig von der Überforderung eines Pflegenden erfahren“, sagt Matschke.

Auch der Sprecher des medizinischen Dienstes der Krankenkassen sieht darin häufig den Auslöser von Gewalt und Psychoterror. „Damit hat die Abteilung für Chancengleichheit Kompetenz erworben, vor allem über das Projekt Stop gegen häusliche Gewalt“, begründet Sozialbürgermeisterin Isabel Fezer die Ämterzuordnung.

Bisher war der Stadtseniorenrat für Beschwerden in der ambulanten Pflege zuständig. Wie die Vorsitzende Renate Krausnick-Horst sagt, bewegt sich die Zahl der Beschwerden jährlich bei rund 100, „allerdings geht es dabei auch um vertragliche Streitfragen oder unberechtigte Geldforderungen“. Eine öffentliche Diskussion, meint sie, könne der Gewaltprävention dienen.

Die Polizei war in Stuttgart im vergangenen Jahr 485-mal wegen häuslicher Gewalt im Einsatz. Dazu zählen Gewalttaten gegenüber Frauen und Kindern sowie gegenüber einem Menschen, der von der Pflege und dem Wohlwollen eines anderen abhängig ist. Bisher hat die Stadt jedoch keine extra Statistik geführt über Fälle von Gewalt in der Pflege; seit diesem Januar wird gezählt.

Kommt es in Heimen zu Übergriffen, wird die Heimaufsicht im Amt für öffentliche Ordnung verständigt. Auch dort gibt es nichts, was es nicht gibt, selbst Übergriffe der Heimbewohner untereinander. So soll ein im Rollstuhl sitzender Mann immer wieder demente Bewohnerinnen und Mitarbeiterinnen sexuell genötigt haben. Die Heimaufsicht verklagte ihn, der Mann wurde ermahnt, das Verfahren läuft.

Hintergrund

Die Zahl Pflegebedürftiger ist in der Landeshauptstadt von 10 568 Frauen und Männern im Jahr 1999 auf 12 978 im Jahr 2011 gestiegen. Das sind 22,8 Prozent mehr.

Die Prognose ist ein Plus von rund zehn Prozent bis zum Jahr 2020. In diesem Jahr werden dann vermutlich rund 34 000 Menschen in Stuttgart leben, die älter als 80 Jahre sind.

Zwei Drittel der Pflegebedürftigen sind Frauen, ein Drittel Männer. Zwei Drittel der Pflegebedürftigen werden zu Hause gepflegt.

2,7 Prozent der über 60-Jährigen sind laut Hochrechnung der Weltgesundheitsorganisation, der Organisation der Vereinten Nationen, mit Sitz in Genf von körperlicher Gewalt bedroht oder betroffen. Hochgerechnet auf Stuttgart wären dies 540 Betroffene in der häuslichen Pflege. (czi)