Auch Pflegebedürftige haben mit bürokratischen Hemmnissen zu kämpfen. Foto: dpa

In der Regel bekommen Patienten von der Bürokratie in Kranken- und Pflegeversicherung nicht viel mit. Eine Stuttgarterin und ihre behinderte Tochter führen einen bürokratischen Kleinkrieg mit der Krankenkasse – seit mehr als zehn Jahren.

Stuttgart - Martha W. (Name geändert) ist wütend. Ihre erwachsene Tochter ist von Geburt an behindert, inzwischen zu 100 Prozent. Sie benötigt diverse Hilfsmittel, darunter Katheter zur Entleerung der Darmersatzblase, Rollstuhl und Maßschuhe. Darüber führe die Familie einen regelrechten bürokratischen Kleinkrieg mit der Krankenkasse der Tochter, und das schon seit mehr als zehn Jahren, schildert die Stuttgarterin.

Zu Beginn monierte die Kasse, die Tochter brauche zu viele Katheter. Nach dem Gutachten eines Urologen lenkte sie ein. Dann ging es um den Rollstuhl, der erst nach fünf Monaten bewilligt wurde. Schließlich stritt man um die orthopädischen Schuhe, für die es ebenfalls erst nach einem Gutachten grünes Licht gab.

Als ein Orthopäde zusätzlich Unterschenkelorthesen verordnete, stellte sich die Kasse erneut quer. Die Familie legte Widerspruch ein, der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) wurde eingeschaltet. Einen Untersuchungstermin gab es erst, nachdem Mutter und Tochter den Behindertenbeauftragten der Stadt Stuttgart einschaltete, den früheren Sozialamtsleiter Walter Tattermusch. „Anfangs behandelten uns der Orthopädietechniker und die Ärztin sehr von oben herab. Nach der Untersuchung waren beide kleinlaut und meinten, so schlecht hätten sie sich die Füße meiner Tochter nicht vorgestellt“, sagt Martha W. Die Orthesen gingen durch.

Monatelanges Warten auf Hilfsmittel

Ihre Tochter sei fast 20 Jahre voll berufstätig gewesen. Nach vier OPs an den Füßen könne sie nur noch Teilzeit arbeiten. Jetzt sei sie seit Mitte Januar krankgeschrieben, weil die alten Maßschuhe nicht mehr passen, sie wiederholt gestürzt ist und infolge krampfender Füße nicht mehr Autofahren kann.

Die Orthesen seien auch vier Monate nach der Rezeptausstellung noch nicht fertig, da zu spät genehmigt, schildert Marta W. Ihre Tochter sei psychisch und physisch am Ende ihrer Kräfte. Sie könne nicht mehr allein rausgehen, sei auf Begleitung angewiesen. „Für mich ist das Körperverletzung“, klagt Martha W. an.

Wolfram-Arnim Candidus, langjähriger Präsident der Deutschen Gesellschaft für Versicherte und Patienten, kennt zuhauf Fälle wie diesen. Im Verhalten der Kasse erkennt er ein System. „Je mehr Anträge ich als Kasse abgelehnt habe, desto geringer sind meine Ausgaben und desto besser stehe ich im Wettbewerb mit anderen da“, erklärt er. Es sei ein Trauerspiel, dass es in diesem falschen Wettbewerb eben nicht um die beste Versorgung der Patienten gehe. Der Hauptgrund für alle bürokratischen Maßnahmen, „die von der Politik vorgegeben und von den Krankenkassen im Wesentlichen umgesetzt werden, liegt im Tatbestand der ökonomischen Ausrichtung der Versorgung“, so Candidus. „Es geht dabei immer um die Frage, wie Beitragserhöhungen vermieden und Ausgaben reduziert werden können.“

Die beste Versorgung bleibt auf der Strecke

Andreas Vogt, Landeschef der Techniker Krankenkasse, weist diese Kritik zurück. „Die Krankenkassen müssen alle gesetzlich vorgegebenen Leistungen bezahlen, gleichzeitig aber darauf achten, dass das Gebot der Wirtschaftlichkeit eingehalten wird“, sagt er. Dies führe jedoch nicht zu Bürokratie und Leistungsrückgang, weil das im Wettbewerb keinen Vorteil bringe, innovative Angebote über den gesetzlich festgelegten Umfang hinaus dagegen sehr wohl. Darauf setze seine Kasse.

Scharf kritisiert Patientenschützer Candidus auch den MDK. „Mit ihm wird im Streitfall eine Institution eingeschaltet, die von den Kassen finanziert wird und folglich abhängig ist. Wenn ich beim MDK angestellt wäre und einen Bonus erhalten will, würde ich auch versuchen, meine Ausgaben zu minimieren“, sagt Candidus. Dies gelte für die Bewilligung von Hilfsmitteln, aber auch für die Einstufung von Pflegebedürftigen in einen der fünf Pflegegrade.

Dass die beste Versorgung auf der Strecke bleibt, diese Erfahrung hat auch Gisela E. (Name geändert) aus Herrenberg gemacht. Ihr chronisch kranker Mann wurde nach einem epileptischen Anfall in eine Klinik in der Region eingeliefert. Dort verschlechterte sich sein Zustand, er zog sich eine Lungenentzündung zu und erlitt eine Lungenembolie. Der behandelnde Arzt sagte, er könne nichts mehr tun, ihr Mann müsse das Bett freimachen. Eine Krankenschwester erklärte, das Budget ihres Mannes sei „erschöpft“. Trotz hohen Fiebers und entgegen ihren eindringlichen Bitten sei er in ein Pflegeheim verlegt worden, schildert Gisela E. Weil es dort keinen Arzt gab, habe man ihn schon am nächsten Tag in ein anderes Heim gebracht. Dort starb er zwei Tage später im Alter von 73 Jahren.

Eine Weltreise für eine Überweisung

„Mein sterbender Mann wurde mit dem Krankenwagen durch den halben Landkreis gekarrt. Als er in Herrenberg ankam, erschrak ich darüber, wie er nach Luft rang. Er muss bei diesem Transport Todesängste ausgestanden haben“, sagt Gisela W. Sie fragt: „Hätte man ihm dieses menschenunwürdige Leiden nicht ersparen können, indem man ihn ein paar Tage länger im Krankenhaus behält – auch wenn sein Budget erschöpft war?“ Sie habe daraus gelernt: „Hierzulande gilt es, die Vorschriften einzuhalten. Macht nichts, wenn dabei ein Mensch stirbt.“

Mit Vorschriften hat auch Dagmar H. (Name geändert) aus Unterweissach Erfahrungen gemacht, wenn auch nicht so dramatische. Ihr Mann muss seit Jahren die Onkologie eines Krankenhauses aufsuchen. Das bedeutet: Zu jedem Quartalsbeginn darf das Paar erst zum Hausarzt, der zu einem niedergelassenen Onkologen überweist. Dessen Praxis ist 35 Kilometer entfernt. Dort gibt es dann die Überweisung für die Klinik. Das bedeutet noch einmal 15 Kilometer Fahrt. Die Eheleute legen die Strecke mit dem Auto zurück, da es mit Bus und Bahn eine „mittlere Weltreise“ wäre, schildert Dagmar H. Bitter resümiert sie: „Der Hausarzt rechnet mit der Kasse ab, der Onkologe rechnet mit der Kasse ab, obwohl er meinen Mann nicht ein einziges Mal zu Gesicht bekommen hat. Das alles nenne ich Bürokratie in Potenz.“ https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.buerokratie-wahnsinn-regelwut-und-stocksteife-beamte.0f384b65-f72b-4575-b39a-856ab7ee6a94.html https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.kommentar-zumthema-buerokratie-buerger-und-sesselfurzer.4aca742c-62b0-4cc8-88b9-da8826c73ec6.html