Chronische Schmerzen beeinträchtigen massiv die Lebensqualität Foto: Fotolia

Der Mediziner Thomas R. Tölle hat täglich mit Schmerzpatienten zu tun – Er erklärt, was eine wirkungsvolle Therapie ausmacht

Stuttgart – Herr Tölle, die Deutsche Schmerzgesellschaft geht von 13 Millionen Schmerzpatienten in Deutschland aus. Wie kommen Sie auf diese hohe Zahl?
Es sind sogar noch mehr – rund 23 Millionen, die über so häufige und anhaltende Schmerzen über einen Zeitraum von mindestens drei Monaten berichten, dass sie nach der Definition der Internationalen Schmerzgesellschaft zur Gruppe der Patienten mit chronischen Schmerzen gehören.
Tatsächlich so viele?
Die Zahl ist erschreckend hoch. Aber wir haben erstmals repräsentative Daten aus der deutschen Bevölkerung. Sie beruhen auf einer Erhebung, die der Saarbrücker Mediziner Winfried Häuser mit Leipziger Medizinsoziologen durchgeführt hat. Die neuen Analysen zeigen, dass rund 23 Millionen Bundesbürger über chronische Schmerzen berichten. Die Zahl chronischer, nicht tumorbedingter Schmerzen mit starker Beeinträchtigung und assoziierten psychischen Beeinträchtigungen, also einer Schmerzkrankheit, liegt bei 2,2 Millionen Menschen.
Was unterscheidet die 23 Millionen Betroffenen, von denen Sie sprachen, von diesen 2,2 Millionen Patienten?
Häuser ist noch weitergegangen. Er hat analysiert, wer mit einer hohen funktionellen Beeinträchtigung durch die Schmerzen und mit einer Änderung seiner Lebensgewohnheiten konfrontiert ist. Und wer zusätzlich zur Grunderkrankung eine hohe Komorbidität hat – das heißt Begleiterkrankungen wie Angst oder Depression. Dann kommt man auf 2,2 Millionen.
Der harte Kern der chronisch Kranken?
Es sind diejenigen, die so massiv an einer Schmerzkrankheit leiden – im Sinne von Schmerz als eigener Erkrankung – , dass ihr Leben völlig aus dem Ruder läuft und der Schmerz das einzig Bestimmende ist.
Welche Konsequenzen zieht die Deutsche Schmerzgesellschaft aus diesen Zahlen?
Diese Zahlen zeigen: Eine abgestufte Versorgungsplanung ist nötiger denn je, denn für alle Schmerzpatienten muss ein für ihre persönliche Beeinträchtigung angemessene Versorgung vorgehalten werden.
Was machen Sie, wenn ein chronischer Schmerzpatient Ihre Hilfe sucht?
Als Arzt muss man Ruhe ausstrahlen. Wenn jemand starke Schmerzen hat und im Augenblick nicht gefährdet ist, kommt es nicht auf die Stunde an, sondern auf die richtige Strategie. Und die setzt Ruhe, Analyse und eine gute Diagnostik voraus.
Und das heißt  konkret?
Das heißt, nicht noch mehr Bilder machen, noch mehr bohren und aufreißen, sondern genau hinschauen auf das, was vorher war und was den Schmerz verursacht. Das ist es, was einen guten Schmerztherapeuten ausmacht, der auf seine Kräfte vertraut und sich Zeit für seine Patienten nimmt. Dann, und nur dann wird er auch für seine Patienten etwas tun können.
Hinter diesen vielen Betroffenen verbergen sich auch Millionen Leidensbiografien.
Wenn man bedenkt, dass es in Deutschland 1300 bis 1500 spezialisierte Schmerztherapeuten gibt, dann wird schnell klar, dass viele Betroffene unversorgt bleiben.
Was nicht verwundert bei einem Medizinbetrieb, in dem das Gespräch mit dem Arzt oft nur wenige Minuten dauert.
Auf dem Deutschen Ärztetag im Mai und dem Ersten Nationalen Schmerzforum im September war die Schmerztherapie ein zentrales Thema. Es soll nach den Planungen den Arzt mit der Fachkunde Schmerz geben, den Facharzt mit Zusatzbezeichnung spezielle Schmerztherapie, das spezialisierte Schmerzzentrum und das interdisziplinäre Schmerzzentrum, das dann wirklich alle Facetten abdecken kann. Wenn wir das System nach diesem Muster für Deutschland entwickeln, sollte eigentlich kein Patient mehr durch das Raster einer abgestuften Versorgung fallen.
Fakt aber bleibt, dass viele Schmerzpatienten eine jahrelange Zeit des Leidens und der Qualen hinter sich haben. Was läuft da schief?
Zu viele Patienten bleiben auf einer zu niedrigen Versorgungsebene hängen. Deshalb müssen wir die Hausarzt-Ebene extrem stärken. Es kann passieren, dass der Arzt zum Patienten sagt: Nehmen Sie mal ein mildes Schmerzmittel, und warten wir ab. Wenn es nicht besser wird, fragt der Patient Nachbarn, Arbeitskollegen und Bekannte. Jeder hat einen guten Rat. Am Ende heißt es: Jetzt stell dich mal nicht so an!
Was muss geschehen, damit Patienten solche frustrierenden Erfahrungen erspart bleiben?
Schon auf der ersten Kontaktebene beim Hausarzt muss klar sein, was den Patienten quält und welche Faktoren bei seinen persönlichen Schmerzen eine Rolle spielen. Die Nationale Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz hat klar gesagt: Wenn jemand das Risiko hat, dass die Schmerzen chronisch werden, sollte er nach spätestens sechs Wochen zu spezialisierten Ärzten in einem Schmerzzentrum gehen, um seinen Zustand zu untersuchen.
Und irgendwann sagt der Arzt dann möglicherweise: Ich kann Ihnen auch nicht helfen. Gehen Sie zum Psychiater oder Psychologen.
Unter Umständen sagt er das. Als Erstes muss der Patient seinen eigenen Umgang mit den Schmerzen und seine eigene Befindlichkeit mit dem Arzt besprechen. Der Arzt muss mit ihm darüber nachdenken, wie man die Behandlung gestaltet. Jeder Schmerz ist bedenkenswert und muss behandelt werden! Und zwar so gut, wie es geht! Der Arzt muss mit dem Patienten über die richtigen Medikamente und ein Dosierungsschema sprechen.
Und wenn alles nur noch schlimmer wird?
Wenn die Schmerzen nicht aufhören sollten, muss man den Arzt wieder aufsuchen und nach anderen Lösungsmöglichkeiten fragen. Es gibt Möglichkeiten, den Patienten auf einer höheren Versorgungsstufe zu behandeln – etwa in einem Schmerzzentrum. Das setzt voraus, dass der Arzt informiert ist. Viele Ärzte kennen sich aber in der medikamentösen und psychologischen Schmerztherapie nur unzureichend aus.
Mit dem Schmerz kommt die Angst – vor Jobverlust, Belastung der Partnerschaft und Familie, vor der Zukunft. Viele Patienten fühlen sich im Stich gelassen.
Dem kann man nicht widersprechen. Die Frage, wie ich mir selber helfen kann, was meine eigenen Möglichkeiten sind – das ist extrem wichtig. Auf jeden Fall müssen auch die Angehörigen beteiligt werden.
Kommen wir zu einem heiklen Thema: Opioide, sehr starke Schmerzmittel. Es gibt viele Vorbehalte dagegen. Sind die berechtigt?
Wir haben in Deutschland sehr für den Einsatz von Opioiden gekämpft, und ich habe keinen Zweifel an ihrer Wirksamkeit in der Schmerztherapie. Klar ist aber auch, dass das Risiko für eine Suchterkrankung vorhanden ist. Bei bestimmten Patienten, die in schwierigen familiären Verhältnissen leben oder eine Sucht-Vorgeschichte haben, muss man vorsichtig bleiben. Aber welcher Arzt würde jemandem, der an starken Schmerzen leidet, ein wirksames Mittel verweigern? Ich nicht! Bei bestimmten Erkrankungen muss man Opioide verschreiben. Man muss die Behandlung allerdings engmaschig kontrollieren.
Gilt das, was Sie zur Pharmakotherapie – der Behandlung von Erkrankungen mit Hilfe von Arzneimitteln – gesagt haben, auch für die ambulante ärztliche Versorgung?
Der Arzt muss ein wachsames Auge auf den gesamten Hintergrund der Erkrankung haben. Außerdem muss der Patient frühzeitig mit Entspannungs- und Selbstwirksamkeitsübungen, mit Bewegung und Förderung der Körperwahrnehmung beginnen.
Vieles liegt in der Schmerztherapie im Argen. Was muss also künftig besser werden?
Inzwischen müssen alle Medizinstudenten im Studium Schmerzmedizin belegen. Das ist ein großer Fortschritt. Dann müssen wir noch viel mehr Aus- und Fortbildung bei den Ärzten betreiben. Hausärzte sind hier wichtige Ansprechpartner. Und wir müssen uns besser strukturieren. Dafür hat die Deutsche Schmerzgesellschaft jetzt die Türen geöffnet. Die anderen medizinischen Gesellschaften aus den Bereichen Chirurgie, Innere Medizin oder Orthopädie sollen enger mit uns zusammenarbeiten.
 
 

Zur Person: Thomas R. Tölle

1958 geboren in Lünen

Studium der Medizin und Psychologie an den Universitäten Bochum, Frankfurt, Düsseldorf, München; Promotion in beiden Fächern

Klinische Tätigkeit am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München

1995 Wechsel an die Neurologische Klinik der TU München; dort Leiter des Zentrums für Interdisziplinäre Schmerzmedizin (ZIS)

Seit Januar 2013 ist der Professor für medizinische Psychologie und Neurobiologie Präsident der Deutschen Schmerzgesellschaft (ehemals DGSS)