Tatjana Sebben, Lisa-Katrina Mayer, Nils Kahnwald, Dagna Litzenberger Vinet, Miriam Morgenstern (v. li.) in "Hexenjagd". Foto: Tanja Dorendorf / T+T Fotografie

In Stuttgart hat Jan Bosse vor allem Familiendramen inszeniert. Am Samstag nun hat er in seiner dreistündigen Zürcher „Hexenjagd“ die Untiefen junger Rebellinnen und verzweifelte Ehepaare ausgelotet.

Zürich - Frauen in schwarzer Unterwäsche, andere in schwingenden Reifröcken mit kunstvoll hochgestecktem Haar stürmen die Bühne. Amazonen mit Gitarre, die in Schnürstiefelchen über ein sandiges Gräberfeld staksen. Im gleichförmigen Rhythmus spielen sie die ersten Takte eines Songs der Rockband Queens Of The Stone Age an: „Burn The Witch“. Verbrennt die Hexe – passender geht’s nicht in einer Inszenierung von Arthur Millers „Hexenjagd“.Das Lied, das am Samstag bei der Premiere in der Schiffbauhalle des Schauspiels Zürich zu hören war, handelt von Wahrheit und Lüge, vom in der Hölle brennen, vom Geschichten erfinden und vom Mob, der Blut sehen will; also ziemlich genau von all dem, was Miller in seinem 1953 entstandenen Stück erzählt.

Die Frauen blicken herausfordernd in die Menge – auf die Geistlichen, den Richter, die bigotten Dorfbewohner und die Zuschauer. Die sitzen rund um das Spielfeld auf harten Bänken und sind gleichsam Teil des raumfüllenden Bühnenbilds von Stéphane Laimé. Eine Mischung aus Westerndorf, Kirche und Gerichtssaal, dazu eine täuschend echt wirkende Wald-Fototapete an den Wänden.

Wie sie hier so kreischen, singen und Gitarre klampfen, wirken sie trotz der von Kathrin Plath entworfenen prächtigen historischen Kostüme (das Stück spielt Ende des 17. Jahrhunderts) wie Frauen von heute. Rebellinnen, die nach eigenen Gesetzen handeln, die eine Gesellschaft von Heuchlern und Pharisäern aufmischen. Das hat weniger von der McCarty-Ära und mehr von einem Aktivistinnen-Auftritt der feministischen Punkband Pussy Riot, die gegen Machtmissbrauch jeglicher Art ankämpft. Eine ordentliche Portion Stolz ist in ihrem Blick, aber auch jede Menge Wahnsinn. Denn ihr „Protest“ kostet zahlreiche unschuldige Menschen das Leben.

Der Text enstand in der McCarty-Ära als Kommentar auf die hysterische Kommunistenverfolgung

In Millers Stück, das sich gegen religiösen und politischen Fanatismus wendet, machen sich Mädchen nächtliche Späße mit Teufelsbeschwörung und Nackedei-Tänzen im Wald. Sie werden erwischt, und bevor sie selbst als Hexen gejagt werden, drehen sie den Spieß um und geben ihrerseits vor zu wissen, wer im Dorf wirklich mit dem Teufel im Bunde ist. Sie genießen ihre Position derart, dass bald das Chaos ausbricht, weil sie fast jeden verleumden und die Gefängnisse übervoll sind.

Der kurze popmusikalische Ausflug sowie die wächsernen Gesichter und strähnigen Haare der Hexenverfolger, die an Horrorfilmpersonal erinnern, zählen zu den wenigen tagesaktuellen Anspielungen. Der Text, der in der McCarty-Ära als Kommentar auf die hysterische Kommunistenverfolgung entstand, lässt sich eben schwer übertragen auf den heutzutage überall keimenden religiösen Fanatismus. Und so entschließt sich der in Stuttgart geborene Regisseur Jan Bosse, das Drama texttreu zu inszenieren und sich auf das gute Ensemble zu verlassen.

Im Stuttgarter Schauspielhaus hat Bosse zuletzt mit Bergmans „Szenen einer Ehe“ und „Herbstsonate“ Familiendramen auf die Bühne gebracht. Auch in Zürich gelingt es ihm besonders gut, den bei Miller holzschnittartig gezeichneten Figuren Tiefe zu verleihen. Vor allem Carolin Conrad und Markus Scheumann spielen das Ehepaar Elizabeth und John Proctor anrührend, das sich trotz seines Ehebruchs immer noch liebt.

Der Richter ist hilflos überfordert, als die Mädchen gestehen

Abigail Williams (Dagna Litzenberger Vinet), Anführerin der Mädchen, wirkt wie ein trotziges Kind, das den bösen Hokuspokus vor allem aus Liebeskummer praktiziert, in der Hoffnung, die Frau ihres Ex-Lovers John Proctor beseitigen zu können. Flehend hängt sie sich an Proctor, lässt sich von ihm quer durch den Raum schleifen. Und zögert nicht lange, bis sie Elizabeth als Satansbraut denunziert.

Selbst die heute fern scheinenden Teufelsaustreibungen – abgesehen davon, dass so eine tödlich endende Sitzung zuletzt tatsächlich in Deutschland stattgefunden hat – inszeniert Jan Bosse fein, hält die Balance zwischen Klamauk und Schrecken. Jirka Zetts Pastor Hale springt auf das Bett eines der Mädchen und fuchtelt mit einem riesigen Holzkreuz vor ihrer Nase, sucht nach sicheren Zeichen für ihre Besessenheit. Doch seine Lächerlichkeit kippt ins Gemeingefährliche, als er die Mädchen zu bedrohen beginnt.

Auch Jean-Pierre Cornu spielt den Richter Danforth als vernagelten Menschen, der mit seinem ungläubigen Staunen über Ehebruch, Lug und Trug zum Lachen reizt. Der aber hilflos überfordert ist, als Mary Warren (Lisa-Katrina Mayer) aussagt, sie, Abigail und die anderen Mädchen hätten alles nur erfunden. Er besteht darauf, die Verdächtigten nur laufen lassen zu können, wenn sie gestehen, denn: „Wir leben in einer strengen Zeit“ und: „Wer nicht gesteht, wird gehenkt.“

Müsste man vor einem fanatisch irrsinnigen Gericht lügen, um zu überleben?

Pastor Hale, der irgendwann den Irrsinn erkennt, bittet die Gefangenen jetzt zu lügen und jeglichen Quatsch zuzugeben, um ihr Leben zu retten. John Proctor, selbst angeklagt, gesteht und widerruft in letzter Minute. Der erleichterte Satz seiner Ehefrau „Jetzt hat er seine Würde“, der das Stück beendet – gestrichen. Nicht aber die vorletzten Passagen: Pastor Hales Hadern über „falsches Ehrgefühl“, „Stolz und Eitelkeit“ von John Proctor.

Ist Proctor in seinem Beharren auf Wahrheit gut? Oder darf und sollte, ja müsste man vor einem fanatisch irrsinnigen Gericht lügen, um zu überleben und weiter gegen ein Unrechtsregime ankämpfen zu können? Philosophische Fragen, die Millers Text dauerhaft aktuell wirken lassen. Und so wären diese Sätze womöglich ein denkwürdigerer Schluss gewesen als die von einem der Frömmler ausgesprochenen Worte über Moraldebatten, Geschichtsbewusstsein und die Angela-Merkel-Fingergeste, die eine aufgesetzte Aktualität behaupten.

www.schauspielhaus.ch