Erwin Lamparter an seinem Schreibtisch im Jahr 1988 Foto: Stadtarchiv Sindelfingen

Erwin Lamparter wird als 22-Jähriger direkt nach dem Zweiten Weltkrieg Bürgermeister von Maichingen. Er prägt den Wiederaufbau und die Integration von Vertriebenen, zudem beteiligt er die Bürger. Heute wäre er 100 Jahre alt geworden. Ein Gastbeitrag von Michael Kuckenburg.

Der letzte Tag der Hitler-Diktatur in Maichingen wird fast zum letzten Tag im Leben des 22-jährigen Erwin Lamparter. Glücklicherweise überlebt er gleich zwei brenzlige Situationen – und macht sich in den folgenden Jahrzehnten um den materiellen Wiederaufbau und den politischen Neubeginn besonders verdient.

 

Mit dem Leben davon gekommen

Freitag, 20. April 1945: Französische Panzer haben den Ortsrand von Maichingen erreicht, eine Volkssturmgruppe will sie an der Gabelung der Straßen nach Döffingen und Darmsheim mit einigen Panzerfäusten stoppen; dem Verwaltungsgehilfen Erwin Lamparter gelingt es, sie mit guten Worten (und einigen Lebensmittelkarten) zum Abzug zu bewegen. Unglücklicherweise läuft die Gruppe kurz darauf einer Abteilung Feldgendarmen – den berüchtigten „Kettenhunden“ – vor die Flinte. Der Fall ist klar: Fahnenflucht, darauf steht standrechtliches Erschießen oder Erhängen. In ihrer Not beschuldigen sie Erwin Lamparter: Der habe ihnen den Rückzug befohlen. Die Feldgendarmen besetzen sogleich das Rathaus und nehmen den „Wehrkraftzersetzer“ fest. Sein Schicksal scheint besiegelt, zu seinem Glück beschießen die Franzosen bereits den Ort; es gibt elf Tote, eine Kanone ist direkt aufs Rathaus gerichtet. Erwin Lamparter nutzt die Verwirrung, um sich zu verdrücken: Gerettet! Aber nur für einen Moment.

Als mutmaßlicher Saboteur festgenommen

Denn für die französischen Besatzer ist klar, dass sie es mit einem „Werwolf“ zu tun haben: Wieso ist der, obwohl augenscheinlich kriegsdiensttauglich, sonst in Zivil? Und warum steht da eine Funkanlage im Raum? Lamparter wird als mutmaßlicher Saboteur festgenommen; möglicherweise rettet ihn die Erkenntnis, dass die vermeintliche Funkanlage ein schlichter Lautsprecher ist. Dennoch: „Meine Befreiung begann mit Fußtritten, mit Hunger und Enttäuschung“, erinnert sich Erwin Lamparter Jahrzehnte später.

Mit 22 Jahren Bürgermeister von Maichingen

Am 7. März 1946 wählt der Maichinger Gemeinderat Erwin Lamparter zum Bürgermeister von Maichingen. Da ist er 22 Jahre alt. Und der soll die riesigen Nachkriegs-Probleme bewältigen? Zur größten Herausforderung wird die Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen: Keine vier Wochen nach seiner Wahl kommt der erste Transport mit 360 Menschen an, bis Jahresende sind es weitere 773 Personen. Die ersten werden in der Turnhalle untergebracht, aber bald wird klar: Die sind hier nicht auf Durchreise, die meisten müssen und wollen bleiben! Erwin Lamparter führt viele – buchstäblich an der Hand – zu den Häusern im Ort: „Bitte sehr, hier sind Ihre neuen Mitbewohner.“

Zwangseinquartierungen führen zu Konflikten

Die Zwangseinquartierungen der Fremden führen rasch zu Konflikten mit den 1500 Einwohnern. Um die Integration zu erleichtern, ruft Erwin Lamparter die „Bausteinaktion“ ins Leben: Für 50 Mark kann man einen (verzinslichen und wiederverkaufbaren) Baustein erwerben; schnell sind 100 000 Mark zusammen, die Gemeinde stellt Bauland zur Verfügung, im Herbst 1949 sind die ersten 15 Häuser für jeweils 12 000 Mark im Gebiet Krautgarten fertig, bis 1954 werden es, auch im Allmend, weitere 183 sein. Die „Bausteinaktion“ wird zum Vorbild für andere Gemeinden.

Vorbildlicher Verwaltungsstil

Vorbildlich ist auch der neue Verwaltungsstil durch die Einführung von Bürgerversammlungen, zum Beispiel zur Frage eines Schulneubaus. Die Gemeindebesichtigung durch das Land findet 1952 in Maichingen „ein einzigartiges Bild des Aufbaus“, der Gemeinderat ruft 1954 zur Wiederwahl Lamparters, inzwischen SPD-Mitglied, auf: „Er hat getan, was nach menschlichem Ermessen überhaupt möglich war.“

Der Eingemeindung folgt der Umzug ins Sindelfinger Rathaus

1965 wird er auf weitere zwölf Jahre gewählt. Sechs Jahre später steht Maichingen mit seinen inzwischen 9000 Einwohnern dank mehrerer Industrieansiedlungen finanziell glänzend da. Im gleichen Jahr endet die Selbstständigkeit: Maichingen wird nach Sindelfingen eingemeindet; für Erwin Lamparter ein bitterer Lebenseinschnitt.

Und dennoch engagiert et sich auch in der Kernstadt. Erwin Lamparter wird Verwaltungs- und Sozialbürgermeister von Sindelfingen; Jugendhilfe, Krankenhaus, „Gastarbeiter“ und internationale Verständigung mit Partnerstädten liegen ihm besonders am Herzen. Am 30. November 1987 wird er verabschiedet. „Er ist nicht auf die Knie und nicht auf die Barrikaden gegangen“, würdigt ihn der SPD-Ortsvorsitzende Stephan Braun bei seiner Beerdigung im Februar 1998.

Unwissentlich zum Mitglied in der NSDAP geworden?

Dabei hätte Erwin Lamparters Karriere als Bürgermeister bereits im April 1947 fast ein jähes Ende gefunden. Denn da stellte sich heraus, dass er laut NSDAP-Mitgliederkartei im April 1942 „Parteigenosse“ geworden war. Die amerikanische Militäradministration hätte deshalb seine Wahl annullieren können. Lamparter versicherte umgehend per eidesstattlicher Erklärung, dass der Mitgliedsantrag ohne sein Wissen gestellt worden sei und er erst jetzt von seiner Mitgliedschaft erfahren habe; die Entnazifizierungs-Spruchkammer glaubte ihm, das Verfahren wurde eingestellt. Sämtliche Befragten hatten zuvor ausgesagt, dass er sich nicht aktiv für die NSDAP betätigt hatte.

Wie glaubwürdig war Lamparters Beteuerung? Der renommierte Parteienforscher Jürgen Falter wird mit der Frage konfrontiert und kommt zum Ergebnis, dass unbemerkte Mitgliedschaft äußerst selten vorkam, aber im „Fall Lamparter“ nicht ausgeschlossen werden könne. Es bleiben Zweifel – und doch: Erwin Lamparter war als Bürgermeister für die Maichinger Nachkriegszeit (und später für Sindelfingen) ein Segen.

Der Verfasser Michael Kuckenburg war von 1974 bis 2012 Lehrer am Goldberg-Gymnasium Sindelfingen und hat die dortige Geschichtswerkstatt geleitet.

Erwin Lamparter: ein Leben in Rathäusern und Parlamenten

Goldberg-Schüler
 Erwin Lamparter wird am 6.4.1923 in Böblingen geboren. Er legt die Mittlere Reife an der „Adolf-Hitler-Schule“ (heute Goldberg-Gymnasium) ab. Von 1937 bis 1940 gehörte er der Hitlerjugend. 1941 wird er Soldat, 1944 als Kriegsversehrter entlassen.

Laufbahn
Am 7. März 1946 wird er Bürgermeister von Maichingen. Ab 1952 gehört er der SPD an. Von 1953 bis 1994 ist er Mitglied des Böblinger Kreistages, von 1970 bis 1980 zudem Landtagsabgeordneter. Nach der Eingemeindung Maichingens wird er Verwaltungs- und Sozialdezernent in Sindelfingen, 1987 geht er in den Ruhestand. Am 13. Februar 1998 stirbt Erwin Lamparter in Maichingen.

Ehrungen
 1986 erhält er das Bundesverdienstkreuz, 1988 dann die Verdienstmedaille des Landes.