Ministerpräsident Volker Bouffier sieht zunächst noch die wesentlichen Wahlziele seiner CDU erreicht – muss allerdings schwere Einbußen verkraften. Foto: AFP

Nach der Landtagswahl in Hessen gibt es tragische Helden: einer ist der SPD-Kandidat Thorsten Schäfer-Gümbel. Die Schuldzuweisungen von SPD und CDU weisen klar nach Berlin. Nur die kleinen Parteien frohlocken – und die Grünen jubeln laut.

Wiesbaden - Erst Enttäuschung, dann Aufatmen bei der CDU-Anhängerschaft, tiefes Entsetzen hingegen bei den Sozialdemokraten, gefolgt von Schweigen – das waren die Reaktionen auf die ersten Hochrechnungen. Bis zum Schluss haben die einst großen Volksparteien CDU und SPD in Hessen gekämpft, um ihre von den Forschungsinstituten vorhergesagten Werte zu verbessern – vergeblich. Beim Urnengang am Morgen in Gießen hatte CDU-Ministerpräsident Volker Bouffier sich noch zuversichtlich gezeigt, sein Wahlziel von „30 Prozent plus X“ zu erreichen, was Bescheidenheit verriet und weit unter dem Landtagswahlergebnis von 2013 lag.

Fast verzweifelt hatte Bouffier im Wahlkampf versucht, die seiner Ansicht nach „hervorragende“ wirtschaftliche Bilanz von Hessen dem Wahlvolk zu erklären. „Warum wählt ihr uns nicht, verdammt noch mal?“ hat er mehrfach in die Säle gebrüllt. Bouffier konnte sich darauf berufen, dass in den Umfragen eine 60-Prozent-Mehrheit mit der Arbeit von Schwarz-Grün zufrieden waren.

Bei der CDU floss reichlich Sekt

Dass das schlechte Image der Koalition von CDU und SPD im Bund die hessische CDU nach unten gezogen hat, das machte der Merkel-Freund Bouffier am Wahlabend gleich in seinen ersten Kommentaren deutlich. „Der Wahlkampf ist wie noch nie stark überlagert worden vom Erscheinungsbild der großen Koalition in Berlin“, analysierte er. Die CDU-geführte Landesregierung – seit 2013 mit den Grünen in einer Koalition – stehe für „weniger Streit und mehr Sachorientierung“. Im Übrigen liege das CDU-Ergebnis in Wiesbaden vier bis fünf Prozentpunkte über den Umfragewerten der CDU im Bund, und eine Mehrheit wünsche, dass die „ erfolgreiche Arbeit“ von Schwarz-Grün in Hessen fortgesetzt werde – ein klarer Fingerzeig nach Berlin.

Wie kann das sein? Schwere Verluste hat die CDU eingefahren, aber die Stimmung am kalten Büffett in den überfüllten CDU-Fraktionsräumen war dennoch gelöst. Mit einem blauen Auge davongekommen, das war der Tenor. Sekt floss reichlich. Der Wunsch nach einer Fortsetzung von Schwarz-Grün war spürbar. Er glaube, „dass die Chemie stimmt zwischen CDU und Grünen in Hessen“, sagte Christoph Fay von der CDU-Mittelstandsvereinigung. Die ehemalige CDU-Oberbürgermeisterin von Frankfurt, Petra Roth, machte schon mal Mut für eine Koalitionsregierung, die sich auf eine knappe Mehrheit stützen muss: „Ich habe Erfahrung mit einer Stimme Mehrheit im Parlament. Das erfordert Disziplin bei den Abgeordneten und eine an der Sacharbeit orientierte Politik der Regierung.“ Wankt jetzt angesichts der CDU-Verluste der Parteivorsitz von Angela Merkel? „Das müssen Sie doch die Bundestagsabgeordneten fragen. Wir sind in Hessen“, sagte Roth.

Bei der SPD blieben viele Stehtische leer

Die CDU ist mit Abstand die stärkste politische Kraft – und Bouffier könnte demnach Ministerpräsident bleiben. Von einer Denkzettel-Wahl war im Stadtschloss von Wiesbaden, dem Sitz des Landtags, allenthalben die Rede. Denkzettel wurden auch für Berlin ausgeteilt. Dass die 4,4 Millionen Wahlberechtigten die SPD abstrafen würden, war bereits prognostiziert worden. Wie drastisch die Abfuhr jedoch ausfiel, das schickte Schockwellen in den Landtag und ins für die Wahlparty gemietete Restaurant Lumen am Marktplatz, das angeblich über die längste Theke Wiesbadens verfügt. Ein Platz, um den Kummer der Genossen zu ersäufen? An der Theke war noch viel Platz, viele rote Stehtische blieben leer, die Stimmung war bedrückt.

Als tragischer Held und chronischer Verlierer steht nun SPD-Spitzenkandidat Thorsten-Schäfer-Gümbel da, sein Ergebnis ist niederschmetternd. Das sei eine „bittere Niederlage und das schlechteste Ergebnis der Hessen-SPD seit 1946“, sagte Schäfer-Gümbel. Die SPD-Landespartei habe die richtigen Themen gesetzt, und ihr sei eine hohe Kompetenz dafür zugesprochen worden, etwa in der Wohnungspolitik. Dennoch habe sie „gegen den übermächtigen Bundestrend“ nicht gewinnen können, das sei „absolut ungewöhnlich“. Schäfer-Gümbel griff ein Wort der SPD-Chefin Andrea Nahles auf, wonach es aus dem Bund „Gegenwind“ für die Genossen in Hessen gegeben habe, und er verwandte es gegen sie: „Wir hatten keinen Gegenwind, wir hatten regelmäßig Sturmböen im Gesicht.“ Neben Schäfer-Gümbel stand seine Ehefrau Annette, der Sonntag war ihr Geburtstag, aber ihre Miene war leichenbitterernst. Für Schäfer-Gümbel, der im dritten Anlauf scheiterte, die CDU vom Hof zu jagen, ist es ein Desaster. Es war „TSG“ – wie ihn Parteifreunde nennen –, der den Karren der Hessen-SPD einst „aus dem Dreck“ gezogen hatte. Er war es, der die Partei nach der Ypsilanti-Krise von 2009 – als die SPD bei der Landtagswahl um 13 Prozent abgesackt war – herausgeführt und 2013 auf ein passables Niveau von 30,7 Prozent zurückführte. Und jetzt der tiefe Fall.

Die Kleinen kommen groß raus

„Externe Faktoren“ seien Schuld, sagte beim Bier Thomas Schwarze, ein Mitglied des Schattenkabinetts von TSG. „Ich wäre gern Kultusminister geworden, das wäre gut für Hessen Schulen gewesen“, sagte er. Ein anderer Genosse, ein SPD-Bürgermeister, grämte sich, das Ergebnis sei bedrückend: „Wir machen doch in den Kommunen gute Basisarbeit. Es muss was passieren?“ Aber was? Im Willy-Brandt-Haus? Ja, man sei in Hessen auf dem richtigen Weg gewesen, habe „mit neuen Formen bodenständigen Wahlkampf gemacht“ und sei „näher an den Leuten dran gewesen“, sagte die Landtagskandidatin Patricia Eck. Auch sie wirkte ratlos.

Die kleineren Parteien kommen an diesem Abend groß raus: allen voran die Grünen, die in der für ihre Cocktails berühmten Bar No One in der Goldgasse lautstark jubelten. Ihr Motto: „Hessen war noch nie so grün.“ In welchem Koalitions-Cocktail sich die Grünen wiederfinden, war am Wahlabend absehbar: es läuft vermutlich auf ein Weiter-so mit der CDU oder auf Jamaika hinaus. Der Stolz beim Spitzenduo Tarek Al-Wazir und Priska Hinz war immens, das Ergebnis der Grünen in Bayern (17,5 Prozent) konnten sie toppen. Al-Wazir luchste dem CDU-Sozialminister Stefan Grüttner mit 27,5 Prozent und damit fünf Prozent Vorsprung sogar das Dirketmandat in Offenbach-Stadt ab. Aber auch Al-Wazir führte das gute Ergebnis auf die „Groko“ in Berlin zurück: „Es gab viele Menschen, die im Wahlkampf auf uns zugekommen sind, und gesagt haben, wir finden es gut, dass ihr euch um die Sache kümmert, wir finden es gut, dass ihr nicht um euch selbst kreist, so wie die große Koalition in Berlin.“ Das Wahlergebnis sei ein Auftrag weiterzumachen in Sachen Energiewende, Agrarwende, Verkehrswende. Auch bei den Grünen gab es Kopfschütteln über den Fall der SPD. „Die SPD ist in einer Regierungskoalition, aber die Nahles führt sich auf wie die Juso-Tante von vor 50 Jahren“, meinte ein Ex-Ministeriumssprecher und Rot-Grün-Sympathisant. Kritik an den anderen ist leicht. Ideen, welchen Trumpf die Grünen in neue Koalitionsverhandlungen einbringen wollen, hörte man bei der Ökopartei an diesem Abend noch nicht.

Die Liberalen würden sondieren

Auch die Linken mit ihrer Spitzenkandidatin Janine Wissler, die sich über das „beste jemals in Hessen erzieltes Ergebnis“ freute, und die Liberalen mit ihrem Spitzenmann René Rock ziehen wieder in den Landtag ein. Die Liberalen hofften auf eine Chance, in einer Dreier-Koalition dabei zu sein. Rock freute sich auf ein mögliches Jamaika-Bündnis: „Ja, wir würden sondieren“, sagte er. Man wolle gucken, ob man Jamaika hinbekomme.

Ein Gewinner des Abends ist neben den Grünen auch die AfD, deren Parteibasis im Bürgerhaus von Wiesbaden-Biebrich feierte. Sie erzielten unter ihrem Spitzenkandidaten Rainer Rahn – einem pensionierten Zahnmediziner, Ex-FDP-Mitglied und früheren Flughafenausbaugegner – zwar offenkundig nicht ihr Wahlziel, das bei „15 plus X“ lag. Aber sie schafften es, mit dieser Wahl nun in allen 16 Landtagen vertreten zu sein. Rahn kündigte an, eine „starke Opposition“ im Landtag zu sein.

Das Migrationsthema war im Wahlkampf von den anderen Parteien herausgehalten worden, doch für die AfD war es das Zugpferd: „An den Wahlständen haben wir gemerkt, dass die Bürger die Durchdringung der Gesellschaft mit Migranten bewegt“, sagte der Landesvorsitzende Robert Lambrou. Jedes Jahr nehme Deutschland Migranten in der Anzahl „einer Großstadt“ auf. Das habe Folgen in den Schulen, bei den Wohnungsmieten und im Alltagsleben. Lambrou warf Bouffier eine „Schmutzkampagne“ vor, da dieser gesagt habe, mit der AfD führe „der Weg in den Extremismus“. Die AfD sehe sich aber als „demokratische Partei“, befand Lambrou. Koalieren möchte mit ihr in Hessen aber keiner.