Niemand weiß mehr, wie dieses Sägen-Ungetüm der Firma Stihl in das Depot des Herrenberger Museums gewandert ist. Foto: factum/Jürgen Bach

Was dokumentiert die Zeit, und was ist Müll der Geschichte? Der Historiker Michael Weber aus Sindelfingen inventarisiert gerade das Depot des Museums im Fruchtkasten und untersucht Aststrünke genauso wie gotische Türfassungen.

Herrenberg - Der Zahn der Zeit mahlt unablässig – auch im Depot des Museums in Herrenberg. Alle Gegenstände, die der Lichtkegel von Michael Webers Taschenlampe erfasst, bedeckt eine dicke Schicht Staub. Stapel blinder Bilderrahmen, eine Posaune, mittelalterliche Keramik, ein Aststrunk, dann eine uralte Zwei-Mann-Kettensäge von Stihl, mit der man auch Mammutbäume fällen könnte.

Sechs- bis siebenhundert Gegenstände katalogisiert der Historiker Michael Weber gerade. Die Zeit ist günstig, weil das Museum in der Corona-Pandemie geschlossen wurde und die Museumsleitung so eine Atempause gewinnt, um über eine Neuausrichtung nachzudenken.

Gotische Architektur-Stücke, wurmstichige Tische, Feuerwehrspritzen – das alles ist im Depot des Herrenberger Museums auf mehreren Dachetagen im historischen Fruchtkasten, der Zehntscheuer, gelagert. Die Sachen wurden vor allem in den Siebziger- und Achtzigerjahren gesammelt, als ein neues historisches Bewusstsein in Deutschland erwachte, weil die Wegwerfmentalität der Nachkriegsjahre durch die beginnende Ökobewegung überwunden wurde. Alle Gegenstände wurden damals vorbildlich inventarisiert. Es wurden Fotos davon angefertigt, sie bekamen ein Nummernschild oder wurden beschriftet und dann irgendwo hingestellt. Doch die Schrift verblasste, die Etiketten fielen in den Jahrzehnten der unklimatisierten Lagerung wegen ab, und so weiß niemand mehr, wo welcher Gegenstand steht oder ob er noch vorhanden ist.

Das herauszufinden ist nun die Aufgabe von Michael Weber. Es ist sein vierter Auftrag dieser Art, den er mit seiner Einmann-Firma Weber Historia übernommen hat. Das Standbein des 32 Jahre alten Historikers steht im Heimatmuseum Reutlingen, wo er eine halbe Stelle inne hat, doch sein Herz schlägt nach wie vor im Kreis Böblingen.

Die Chronik des 30-Jährigen Krieges

Als junger Stadtführer stieß er einst in seiner Heimatstadt Sindelfingen auf die Chronik des Stadtschreibers Johann Wilhelm Löher aus dem 30-jährigen Krieg, die noch nicht ediert ist. Er hat sie inzwischen transkribiert und ist gerade dabei, sie zu kommentieren. Das bedeutet, Fachbegriffe und historische Gegebenheiten zu erklären, wobei er sich gar überlegt, darüber eine Doktorarbeit zu schreiben. Denn sicherlich würde eine Dissertation nicht nur Michael Weber schmücken, sondern auch die Stadt Sindelfingen.

Die Stadt Herrenberg jedenfalls braucht eine neue Beschreibung ihres Depots. Die heimatgeschichtliche Sammlung soll vergrößert werden und braucht Platz, das Depot soll kleiner werden, und wenn Michael Webers Arbeit im Sommer beendet ist, dann muss die Museumsleitung entscheiden, was aufgehoben wird und was wegkann.

Doch wann sind es Dinge wert, aufgehoben zu werden? Die Frage ist schwer zu beantworten. Ein zerbrochener Teller von Ikea ist nichts wert. Wenn eine Scherbe aber aus der Römerzeit ist, dann wandert sie ins Museum. „Früher dachte ich, nur etwas von historischem Wert sollte man aufbewahren“, sagt Weber, doch hat sich sein Blick durch den Einfluss der Tübinger empirischen Kulturwissenschaft verändert. Letztlich kann alles gesammelt werden, was die Kultur der Menschen dokumentiert. Weber verfügt über einen guten detektivischen Spürsinn, wenn es darum geht, die Gegenstände zuzuordnen. Der spannendste Fall war ein Konvolut aus einer Blechglocke und einer Eisenkette, die er später als ein Gerät identifizierte, mit dem Metzger den Schweinen die Borsten abzogen.

Das Herz hing am Kinderstühlchen

Die meisten der Gegenstände wurden dem Museum von außen angeboten, Leuten, denen ihre Nähmaschinen oder ihre antiken Schreibtische ans Herz gewachsen waren und die sie in einem Museumsdepot sicher wissen wollten. Den Kinderstühlchen und den Kinderbetten, die im Herrenberger Fruchtkasten stehen, merkt man diese Emotionalität noch an.

Aber die menschlichen Gefühle spannen sich über ein weites Feld. Den skurrilsten Fall hatte Weber einmal im Reutlinger Heimatmuseum. Dem wurde ein Artefakt angeboten, das an den Bau einer bestimmten Straße von Reutlingen stadtauswärts erinnern sollte. Weber musste damals ablehnen – aus Platzgründen. Es war eine Straßenwalze gewesen.