Mit Bussen wurden Kranke und Behinderte nach Grafeneck gebracht. Foto: Diakonie Stetten

Der Historiker Marcel vom Lehn geht davon aus, dass es in Herrenberg mindestens 14 Opfer gab, die im Zuge der Euthanasie ermordet wurden. Thomas Deines von den Freien Wählern setzt sich für eine Gedenkstätte ein.

Herrenberg - Thomas Deines’ Familie ist selbst betroffen. Sein Großvater Friedrich Deines war Mitglied in der NSDAP. Aber die Verfolgung der unter den braunen Machthabern als „minderwertig“ geltenden Menschen machte nicht einmal vor der Familie eines aktiven Nazis halt – dessen Schwester wurde zwangssterilisiert.

Der Historiker nennt die Namen

Die Vergangenheit treibt Thomas Deines, den heutigen Fraktionschef der Freien Wähler im Herrenberger Gemeinderat, schon lange um. Er setzt sich für die Aufarbeitung der schrecklichen Vorgänge ein und schlägt vor, eine Gedenkstätte für die Herrenberger Euthanasieopfer zu schaffen – und zwar auf dem Alten Friedhof. Den Stein ins Rollen brachte der Historiker Marcel vom Lehn, der die Geschichte Herrenbergs in der Zeit des Nationalsozialismus erforschte und in einem Band zur Stadthistorie veröffentlichte. Er nennt auch Namen derjenigen, die an den Gräueln und Morden beteiligt waren, welche für die von den Nazis propagierte „gesunde Volksgemeinschaft“ begangen wurden.

Die Vorstufe der Euthanasiemorde waren Zwangssterilisierungen. „Als ,erbkrank‘ konnten Menschen auch definiert werden, die blind oder taub waren“, so vom Lehn. Das Gleiche habe für Menschen gegolten, denen man „Schwachsinn“ attestiert habe, oder für sogenannte Asoziale wie etwa Alkoholiker. „Kam es zu einer Anzeige, erstellte der zuständige Amtsarzt ein Gutachten und konnte die Sterilisierung offiziell beantragen“, berichtet der Historiker. Als Herrenberger Amtsarzt habe bis 1936 mit Otto Mauthe ein später maßgeblicher NS-Verbrecher fungiert. Über den Eingriff entschied das sogenannte Erbgesundheitsgericht, das in Herrenberg der Vorsitzende des Amtsgerichts geleitet habe, Rudolf Widmann, berichtet vom Lehn.

Mindestens elf Herrenberger wurden in Grafeneck ermordet

Mindestens 44 Frauen und Männer aus dem heutigen Stadtgebiet seien zwangssterilisiert worden, fand er heraus. Auch die Schwester von Friedrich Deines, bei der man auf offenbar zweifelhafte Art Schizophrenie diagnostiziert hatte, gehörte zu den Opfern. Der NS-Führer von Haslach konnte zwar ihre Deportation in die Tötungsanstalt Grafeneck im heutigen Kreis Reutlingen verhindern, wo die Nazis mehr als 10 000 Menschen ermordeten, nicht aber ihre Sterilisierung. In seiner Empörung darüber schrieb Deines einen Brief an das Gesundheitsamt und wurde später deshalb zu einer Geldstrafe verurteilt.

Vom Lehn recherchierte zudem, dass mindestens elf Herrenberger in Grafeneck ihr Leben ließen, und weiß von drei weiteren Opfern der Morde an Kranken, die woanders starben. „Wahrscheinlich wurden mehr als diese 14 Menschen aus Herrenberg umgebracht. Die genaue Zahl lässt sich nicht mehr herausfinden“, erklärt der Historiker. Anders als die Zwangssterilisierungen seien die Morde auf eine entschiedene Ablehnung etwa auch der Kirchenvertreter gestoßen. So habe der Herrenberger Dekan Haug interveniert, als ein namentlich nicht näher bekannter Herrenberger einfach „weggekommen“ sei.

Marcel vom Lehn: Die Ärzte injizierten Gift

Ein anderes Beispiel für die Euthanasie ist Ernst F. aus Oberjesingen, heute ein Teilort Herrenbergs. Er sei geistig behindert gewesen, so vom Lehn: „Die Eltern wurden getäuscht, in dem man ihnen sagte, kranke Kinder könnten dank neuer Methoden geheilt werden.“ Sie hätten eingewilligt, ihren zweieinhalbjährigen Sohn in die sogenannte Heilanstalt Eichberg im Hessischen zu geben. Heute ist bekannt, dass dort mindestens 5000 Kinder ermordet wurden. Nach außen hin sollte es so aussehen, als seien sie eines natürlichen Todes gestorben. „Die Ärzte injizierten Gift, ließen die Kinder verwahrlosen und hungerten sie aus“, sagt vom Lehn. Die Eltern durften ihren Sohn nicht besuchen. Dagegen erreichten sie Schreiben der „Heilanstalt“, wonach der Junge an einer Lungen- und Rippfellentzündung erkrankt sei. Vor Weihnachten 1941 wurde ihnen mitgeteilt, ihr Bub sei der Krankheit erlegen.