Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler über Putins Pläne, seine Irrtümer und Europas neuen Willen zum Widerstand.
Kiew/Berlin - Er spekulierte auf die Schwäche der Ukraine und die Angst Europas, doch sein Kalkül ging nicht auf. Der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler erklärt, warum sich Putin getäuscht hat, welche Folgen der Einmarsch haben wird – und wie die neue Weltordnung aussieht.
Herr Münkler, was will Wladimir Putin?
Lange hatte es den Eindruck, er wolle von den USA als gleichberechtigter Akteur akzeptiert werden. Aber dazu hätte es nur der Drohkulisse bedurft. Tatsächlich geht es ihm um die Kontrolle über die Ukraine. Wobei im Augenblick schwer zu sagen ist, ob es auf die Installation einer Marionettenregierung oder auf die Eingliederung der Ukraine in den russischen Staatsverband hinausläuft.
Dann war das Gerede von der Bedrohung durch die Nato also nur Mumpitz?
Man kann davon ausgehen, dass die Russen Bedrohungsobsessionen hatten. Was nicht bedeutet, dass sie tatsächlich bedroht wurden. Aber wenn man das Gefühl hat, man sei eingekreist, ist das in der eigenen Perspektive dasselbe, als wenn man eingekreist wäre.
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Der Einmarsch hat alle überrascht. Dabei war offensichtlich, was Putin plant. Mit Realitätsverlust lässt sich das kaum erklären, eher mit Realitätsverweigerung . . .
Rückblickend kann man das als Realitätsverweigerung bezeichnen. Aber es lag lange eine gewisse Logik darin, darauf zu setzen, dass man durch die Androhung massiver Sanktionen die Russen davon abhalten könne, in die Ukraine einzumarschieren. Man hat der Weltordnung zugetraut, dass wirtschaftliche Macht in der Lage ist, militärische Macht und deren Transformation in militärische Gewalt zu stoppen. Das hat sich als falsch erwiesen, und das war der eigentliche Schock. Man hat beiderseits wirtschaftliche Abhängigkeiten geschaffen, die dem Projekt dienten, Konfrontation in Kooperation, Nullsummenspiele in Win-win-Konstellationen zu verwandeln. Dieses Projekt war und ist Voraussetzung dafür, dass Menschheitsaufgaben wie der Hunger oder der Klimawandel gelöst werden. Dieser Vorstellung hat man lange angehangen, während vieles, was dagegen sprach und gezeigt hat, dass wir längst in einer neuen Weltordnung sind, zu wenig beachtet wurde.
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Hält das „Erwachen Europas“ an?
Ich denke schon. Putins Kalkül war sicher ein anderes. Er wollte in einer schnellen Operation Kiew einnehmen, eine ihm genehme Regierung einsetzen, und von der Bevölkerung als Befreier begrüßt werden. Die Sanktionen des Westens wollte er aussitzen und dann irgendwann wieder zum „Business as usual“ zurückzukehren. Das ist gescheitert. Auch durch den ukrainischen Widerstand – vom Militär bis zur Zivilbevölkerung. Die verhängten Sanktionen und vor allem die in Deutschland beschlossenen Investitionen ins Militär, das sind irreversible Vorgänge. Das Vertrauen in die Haltbarkeit einer regelbasierten und wertegestützten Weltordnung ist dahin. Das verzweifelte Festhalten an Best-case-Szenarien wurde abgelöst, nun rechnet man mit dem Worst Case – und das Misstrauen wird lange anhalten.
Wie beurteilen Sie die Sanktionen?
Die Sanktionen haben ein anderes Kaliber als nach der Annexion der Krim oder dem Konflikt im Donbass. Frühere Sanktionen waren eine Art der Kommunikation über Unzufriedenheit. Die aktuellen Beschlüsse sind mehr als Symbolpolitik und zielen darauf, Russland aus den globalen Wirtschaftskreisläufen herauszunehmen. Die werden Wirkung zeigen. Hinzu kommt, dass Putin, sollte er die Ukraine tatsächlich einnehmen, ein zerstörtes Land am Bein hat, das er wieder aufbauen muss und aus dem auch noch die klügsten Köpfe geflohen sind. Da werden die Russen ganz schön leiden müssen. Auch für uns werden die Sanktionen unangenehme Folgen haben. Geopolitisch sorgen sie dafür, dass die Russen in die Arme Xi Jinpings getrieben werden, der sie gerne in Empfang nimmt, nicht als gleichberechtigten Partner, sondern als abhängige Größe.
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Überrascht Sie der Durchhaltewillen der Ukrainer?
Ja. Ich glaube, dass die Ukraine eine postheroische Gesellschaft ist. Eine Gesellschaft, die auf die Vergangenheit, etwa auf die gesamtsowjetische Erzählung des Großen Vaterländischen Kriegs, zurückblickt in dem Bewusstsein, dass sich so etwas nie wiederholen darf. Aber der Angriff Russlands hat die Ukrainer zusammengeschweißt. Auch jene, die ethnisch und lingual eher den Russen zuzurechnen sind. Damit hat Putin nicht gerechnet. Das ist für ihn vermutlich die größere Überraschung als für den Westen. Nachdem, was ich von verschiedenen Generälen gehört habe, hat man Ausrüstung mit Ausrüstung verglichen und gesagt, die Ukraine hat keine Chance. Dass Anfang des 21. Jahrhunderts so etwas wie ein starker Opferwille auch eine Ressource des Widerstands sein kann, hat man nicht erwartet.
Die Worte „heldenhaft“ und „tapfer“ tauchen in den Nachrichten permanent auf. Ist das postheroische Zeitalter zu Ende?
Im Augenblick sind wir zum Glück im Beobachterstatus und nicht direkt bedroht. Doch das Sich-Einrichten in einem exzessiven Konsum der Friedensdividende hat sicherlich nicht nur Folgen für den Wehretat, sondern auch für die innere Einstellung einer Gesellschaft. Ich glaube nicht, dass eine Formel wie „Lieber rot als tot“ noch mal auftauchen wird. Zumal Putin ja nicht rot ist, sondern ein imperialistischer Politiker.
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Ist die Ukraine verloren?
Das hängt von mehreren Dingen ab: Etwa ob Putin bereit ist, den Einsatz zu erhöhen, also größere eigene Verluste in Kauf zu nehmen. Ob er sich auf ein Verhandlungspatt einlässt. Oder ob ihm seine Instrumente abhandenkommen, also dass Teile der Armee und der Sicherheitspolizei nicht mehr so fest zu ihm stehen, wie er sich das vorstellt. Kurz: Dass eine Situation eintritt wie 1917 im Zarenreich. Man kann auch nicht ausschließen, dass die Oligarchen irgendwann sagen, dieser Kerl ist uns zu teuer, und ihn absetzen.
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Experte und streitbarer Geist
Lehre
Herfried Münkler – Jahrgang 1951 – gilt als einer der renommiertesten Politikwissenschaftler Deutschlands. Bis zu seiner Emeritierung im Oktober 2018 lehrte er an der Berliner Humboldt-Universität.
Schriften
Zu seinen bekanntesten Büchern zählen „Die neuen Kriege“ und „Imperien. Die Logik der Weltherrschaft“.