Helmut Kohl starb am Freitag im Alter von 87 Jahren. Foto: dpa

Helmut Kohl ist am Freitag in seinem Haus in Ludwigshafen im Alter von 87 Jahren verstorben. Ein Mann, der vor allem als Kanzler der deutschen Einheit in die Geschichte einging. Ein Nachruf.

Berlin - Wenn sich Politik mit Bilder verknüpft, wird sie unvergesslich. Mit kaum einen Politiker verbinden sich so viele dieser Momente, da sich die Geschichte zu einem Symbol verdichtet, wie mit Helmut Kohl.

Der Kanzler Hand in Hand mit Frankreichs Staatspräsidenten Francois Mitterrand am Gräberfeld von Verdun. Der Kanzler in Strickjacke, ihm gegenüber Michail Gorbatschow, am im Kaukasus, dem Tag als Kohl es endlich wusste - die deutsche Einheit wird kommen, und sie wird rasch kommen und ohne Einschränkungen. Der Kanzler in Dresden bei seiner Rede vor den Trümmern der Frauenkirche, als ihm vielstimmig der Erinnerungsruf der friedlichen Revolution entgegen schallte: Wir sind das Volk.

Am Freitag ist Helmut Kohl im Alter von 87 Jahren in seinem Haus in Ludwigshafen verstorben.

Diese Bilder verknüpfen im kollektiven Bewusstsein der Deutschen die Einheit mit dem Namen Helmut Kohl. Nicht nur mit dem Namen - mit seiner Gestalt. Es ist so seltsam. In jenen Monaten, da die deutsche Einheit gestaltet wurde, da wirkte plötzlich alles so richtig, was früher linkisch erscheinen mochte. Diese große, massige Silhouette. Wie oft stand er in diesen bewegten Tagen in Menschenmengen. Er ragte heraus, er hatte Wucht, und einmal in Bewegung ließ er sich nicht aufhalten. Die Zeit riss ihn mit, aber er beschleunigte sie auch.

Kohl und der Zehn-Punkte-Plan

Nein, man wird nicht behaupten wollen, er habe selbst Anteil am Zustandekommen, jener glücklichen Konstellation, die die Trennung des deutschen Volkes überwindbar machte. Aber als sich die Möglichkeit ergab, hat er sie erkannt, ergriffen, er hat den Prozess gesteuert, von vorn.

Der Zehn-Punkte-Plan im Bundestag -eine Frucht eiligster Improvisation. In der europäischen Politik war eine kurze Weile der Fahrersitz unbesetzt. Das hat er gesehen. Kohl ergriff das Steuer. Fast ein Erschrecken im Bundestag damals. Da formuliert jemand das Undenkbare. Da nimmt einer ernst, was jahrzehntelang ein Mantra der deutschen Politik war, aber letztlich unverbindlich und folgenlos. Jetzt aber konnte jedes Wort die entschiedensten Folgen haben. Kohl hat das nicht geschreckt.

Aber er hat andere verschreckt. Margaret Thatcher. Ihren Ausspruch hat Kohl später immer wieder zitiert, nicht ohne Bitterkeit, aber auch nicht ungern, denn er zeigt doch, welche Widerstände er zu überwinden hatte. „Zweimal haben wir die Deutschen besiegt, und doch sind sie wieder da.“ Auch Francois Mitterrand fühlte sich um den Schlaf gebracht, dachte er in jenen Tagen an Deutschland in der Nacht. Ihn konnte Kohl überzeugen. Mitterrand konnte Vertrauen fassen, weil Kohl die deutsche Einheit ausdrücklich als Teil der europäischen Einheit verstand. Ohnehin muss man das immer hinzu denken, wenn es um Kohls Lebensleistung geht. Ja, der Kanzler der deutschen Einheit - das ist er und wird es immer sein. Aber mit der deutschen Einheit fühlte er jedenfalls sein Werk noch nicht erfüllt. Ein vereintes Deutschland in einem vereinten Europa - das war seine Formel, und die Partner mussten Kohl das Vertrauen schenken, dass er es nicht taktisch, sondern ernst meinte. Und das tat er. Anders ist Kohls unbeirrtes Eintreten für den Euro nicht zu verstehen - für die Aufgabe der D-Mark.

Für Kohl war der Euro der entscheidende Schritt

Das war für ihn kein finanztechnisches Projekt, kein Mittel um irgendwelche Wechselkurs-Probleme endlich in den Griff zu bekommen. Lächerlich, so etwas zu glauben. Nein, für Kohl war der Euro der entscheidende Schritt, der die Einheit Europas zu einem unumkehrbaren Prozess macht. Und darauf kam es ihm an. Der Kanzler der deutschen Einheit? Sicher. Aber auch der Kanzler der europäischen Einigung. So sah er es immer.

Es war ihm so wichtig, dass er auch nach 1990 weiter im Amt blieb. Störrisch sah das für viele Beobachter aus. So, als ob er nicht loslassen könne. Und manchen Weggefährten hat das bitter irritiert. Und störrisch war Kohl ganz gewiss. Aber letztlich war es das europäische Projekt, das ihm einen Machtverzicht unmöglich erscheinen ließ. Eben auch um den Preis eines kommenden Machtverlustes für sich und seine Partei.

Das ist eine Besonderheit dieses politischen Lebens: immer ist von der Außenpolitik die Rede. Da hatte er eine Geradlinigkeit und eine Sicherheit in der Beurteilung langfristiger Strategien, die sich ihn kaum je im Stich ließ. Diese lange Linien beeindrucken: Noch als Oppositionsführer setzte er bedinglos auf die Nato-Nachrüstung, in diesem Punkt ganz einig mit Helmut Schmidt. Diese kompromisslose Haltung hat ihm in Washington den kredi eingebracht, den er dann im Zuge der deutschen Wiedervereinigung brauchte. Georg Bush vertraute Kohl. Nur deshalb hatte er in den Verhandlungen mit Gorbatschow freie Hand. Und ähnliches gilt für Mitterrand. Für Margaret Thatcher galt es nie.

Einmal lag Kohl vollkommen daneben

Selten hatte Kohl das sichere Urteil in außenpolitischen Fragen verlassen. Einmal lag er vollkommen daneben. In der Frühphase der Ära Gorbatschow verglich Kohl den neuen Mann im Kreml in einem abwegigen Vergleich mit Goebbels. Es zeugt wiederum von der Größe des russischen Reformers, später darüber hinweg sehen zu können.

Er hat so lange regiert. 16 Jahre. Und fast ein ganzes Leben war er in der Politik. Immer vorweg, immer der Jüngste. Mit 29 Jahren kommt er in den rheinland-pfälzischen Landtag. 1959 war das. Er blieb Abgeordneter bis 1976 - ohne Unterbrechung. 1964 saß er schon im CDU-Bundesvorstand. 1969 wurde er Ministerpräsident.

In jungen Jahren Ministerpräsident. Sein Weg ganz an die Spitze der Union, gar an die Spitze der Bundesregierung war dann mühsamer, länger, mit Rückschlägen behaftet. Vielleicht erklärt das später seine Witterung für Gefährdungen, seinen Aufwand, die eigene Macht abzusichern, kurz seinen Machtinstinkt. 1971 meldete er seine Kandidatur für den Parteivorsitz an, gegen Rainer Barzel. Da war Kohl schon sein Stellvertreter. Die Abstimmung wurde zu einem Desaster für Kohl. 174 Stimmen entfielen auf ihn, aber Barzel erhielt 521. Aber dann sprach der Wähler sein Urteil über Barzel. Nach der Bundestagswahl 1972 machte dieser den Weg für Kohl frei.

Scharmützel mit Franz-Josef Strauß

Ein neuer Gegner dann, auch ein größerer. Obwohl Kohl bei der Bundestagswahl 1976 48,6 Prozent für die Union holte, blieb Helmut Schmidt Bundeskanzler. Und es begannen die Scharmützel mit Franz-Josef Strauß. Kohl hielt Schmidt immer für arrogant, und er hat gelitten darunter, dass ihn Schmidt nicht als Gesprächspartner auf Augenhöhe akzeptierte. Den Bayern akzeptierte Kohl als Vollblutpolitiker. Auch als Konkurrenten. Er musste ihm 1980 den Vortritt bei der Herausforderung Schmidts überlassen, aber das glatte Scheitern klärte in der Union die Machtverhältnisse. Und 1982 errang Kohl auf dem Weg eines konstruktiven Misstrauensvotums die Kanzlerschaft.

Die Hartnäckigkeit des Pfälzers, seine Fähigkeit, Enttäuschungen zu verkraften, seine unbeirrte Zielstrebigkeit - das imponierte. Dennoch würde man selbst in verklärender Absicht nicht behaupten können, Kohls innenpolitische Leistungen hätten prägend auf das Land gewirkt. Aber zäh und geschickt hat er der Union die Macht gesichert. Und sich selbst, stets die Gefahren erspürend, die ihm drohten. Putschversuche konnte er gnadenlos ersticken. Heiner Geißler, Norbert Blüm, Ernst Albrecht - sie haben das zu spüren bekommen.

Einer hat viel mehr zu spüren bekommen. Wolfgang Schäuble hat Kohl in vielen Funktionen duldsam gedient. Als Fraktionsvorsitzender hatte er lange gehofft, der Kanzler mache ihm irgendwann den Weg frei. Nie hat er das getan. Und dann kam die Parteispenden-Affäre mit all ihren Mysterien und Unappetitlichkeiten. Schäuble, inzwischen Partei fühlte sich hintergangen.

Kohl und die Parteispenden

Die Namen der Parteispender hat Kohl nie genannt. Nicht vor dem Untersuchungsausschuss, nicht gegenüber seiner Partei, nicht später in seiner Autobiografie. Das ist keine Kleinigkeit. Es geht um den Umgang mit Recht und Gesetz. Auch das bleibt in Erinnerung von diesem monumentalen Mann. Möge jeder selbst entscheiden, wie sehr er damit seinem eigenen Ansehen geschadet hat. Seiner Partei hat er sehr geschadet. Sie hat ihm den Ehrenvorsitz genommen. Und spät hat sie sich ihm wieder angenähert. Aber seine politische Lebensleistung hat sie immer anerkannt und nie geschmälert.

Kohl selbst zeigte sich nach dem Abschied aus dem Kanzleramt mit sich im Reinen. Der tragische Freitod seiner Frau Hannelore, die das Leben mit einer tückischen Krankheit nicht mehr ertrug, hat ihn erschüttert. Spät fand er mit seiner zweiten Frau Maike ein neues Glück. In einer Heidelberger Reha-Klinik fand die Trauung statt, im mai 2008. Dort versuchte sich Kohl, von den Folgen eines schweren Sturzes zu erholen. Diesen Unfall, bei dem er sich ein Schädel-Hirn-Traume zugezogen haben soll, hat Kohl nie mehr ganz überwunden.

Bei einer großen Feierstunde im Jahr 2016 trat Kohl noch einmal gemeinsam mit Georg Bush und Michail Gorbatschow auf. Erschreckt verfolgte das Publikum, wieviel Mühe es dem Altkanzler kostete, deutlich zu artikulieren.

Und dennoch war die Botschaft Kohls ergreifend klar: Dankbarkeit. Gegenüber den politischen Freunden, die die deutsche Einheit mit ermöglichten. Dankbarkeit auch gegenüber den Menschen im Ostteil des Landes, die die friedliche Revolution des Jahres 1989 möglich machten. Dankbarkeit schließlich wohl auch seinem Schicksal gegenüber - die deutsche Einheit gestalten und erleben zu dürfen.

In Kohls eigener Sicht hat dies alles andere aufgewogen. Und in der Sicht der meisten Deutschen wird es nicht anders sein.