Helmut Digel zählte zu den profiliertesten deutschen Sport-Funktionären – bis Ende 2016 Vorwürfe laut wurden, er sei im Internationalen Leichtathletik-Verband selbst Teil eines der mafiosen Geflechte gewesen, die er öffentlich häufig kritisierte. Mit gefangen, mit gehangen?
Stuttgart - Er wohnt schon seit Jahren in den bayerischen Bergen. Jetzt könnte man meinen, er sei dorthin geflüchtet – nach Unterwössen. Im Tal, kurz hinter Traunstein, verhallt alle Aufregung in der prächtigen Kulisse. Die Epizentren sportpolitischer Beben liegen weit entfernt. Das ist einerseits gut für den früheren Sport-Funktionär Helmut Digel, 74, andererseits ein Problem für den emeritierten Tübinger Professor, der bekennt: „Ich liebe den Sport noch immer.“
Schatten über Digels Laufbahn
Dabei hat er ihm übel mitgespielt. Ende vergangenen Jahres rückten ihn die Vorgänge um den Internationalen Leichtathletik-Verband (IAAF) in ein Licht, das bis heute Schatten auf seine Laufbahn wirft. War der Saubermann des deutschen Spitzensports womöglich selbst Teil eines mafiosen Geflechts an der Spitze des Leichtathletik-Weltverbands, das positive Dopingproben gegen Bares verschwinden ließ? Das bei der Vergabe von Weltcups oder Weltmeisterschaften die Hand aufhielt? Was wusste der frühere Top-Funktionär von dem Machenschaften des Clans um IAAF-Präsident Lamine Diack? Die öffentliche Empörung schaukelte sich hoch: Allmählich verschwanden die Fragezeichen hinter den Schlagzeilen. Vermutungen gingen über in den Status der Gewissheit.
Und es kam noch schlimmer: Funktionärskollegen zweifelten im Dezember 2016 anlässlich der Mitgliederversammlung des Deutschen Olympischen Sportbunds (DOSB) öffentlich am Beteuern Digels, von all den Mauscheleien nichts gewusst zu haben. „Wer zwei Jahrzehnte neben dem Präsidenten und – so muss man heute sagen – Verbrecher sitzt, der muss auch mal klare Kante zeigen“, wetterte DOSB-Präsident Alfons Hörmann gegen Digel. „Seither“, sagt der renommierte Sportwissenschaftler, „bin ich im deutschen Sport eine Persona non grata.“ Man begegnet ihm höflich, aber reserviert. Journalisten, die ihn früher um kritische Gastbeiträge baten, bitten jetzt um Verständnis: kein Platz, kein Geld fürs Honorar, kein interessantes Thema. Tut uns leid. Ein Funktionär in der Verbannung.
Mit gehangen, mit gefangen
Einst führten ihn die Medien gern ins Feld als den unbequemen Querdenker, den messerscharfen Analysten und unbeugsamen Kritiker gegen herrschende Sportsysteme und deren Praktiken. Jetzt ließen ihn die Dramaturgen auf dieser Bühne fallen wie eine heiße Kartoffel. Er protestierte gegen die Vorwürfe mit einer Stellungnahme in den Presse-Agenturen, er schrieb wütend eine Entgegnung an Alfons Hörmann. Der zeigte ihm die kalte Schulter. Der Sport ist in solchen Zeiten um kein Haar besser als die Politik. Wenn der Dreck erst einmal fliegt, bleibt immer etwas hängen. „Bis heute“, kritisiert Helmut Digel die Funktionärskollegen und Teile der Medien, „hat sich niemand die Mühe gemacht, bei mir nachzufragen. Die wirklichen Fakten und meine Sicht der Dinge wurden in keiner Darstellung berücksichtigt. Mir hat nie jemand eine faire Chance gegeben, die unsinnigen Vorwürfe zu widerlegen.“ Mitgefangen, mitgehangen. Er senkt die Stimme: „Es war sehr verletzend, teilweise auch beleidigend.“
Helmut Digel hätte es wissen müssen. Der Sportsoziologe war einer der Initiatoren eines Studiengangs für Journalisten an der Eberhard-Karls-Universität in Tübingen. Er weiß um die gelegentliche Eigendynamik von schlechten Nachrichten. Und er hätte es ahnen können: Auf Dauer spuckt jedes in sich geschlossene System die Geister wieder aus, die das Getriebe stören. Auch im Sport. Digel war Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbands (DLV), von 1993 bis 2001, einer der Vizepräsidenten im Nationalen Olympischen Komitee (NOK), bis 2007 war er Vizepräsident des Leichtathletik-Weltverbands, bis vor zwei Jahren amtierte er in dessen Council, immer am Puls des Geschehens. Journalisten, die ihn sprechen wollten, erreichten ihn auf einem Handy der IAAF. Vom Weltverband bezog er, als Beauftragter für die TV-Vermarktung, eine Aufwandsentschädigung von monatlich 3000 Euro. Das ist eine ordentliche Summe, aber auch kein maßlos übertriebenes Honorar für Funktionäre, die im Auftrag ihres Verbandes kreuz und quer über den Planeten reisen. Er soll zudem davon gewusst haben, dass Diacks Sohn, Papa Massata, 365 000 Euro an Zugaben verlangte, als er im Auftrag der IAAF mit Stuttgart als möglichem Austragungsort des Leichtathletik-Welfinale verhandelte. „Stimmt“, sagt Digel, „die Kopie dieser Dokumente sind noch in meinem Besitz. Den Brief, dessen Inhalt für mich auch noch heute noch unglaublich ist, habe ich sofort an den IAAF-Generalsekretär Pierre Weiss weitergeleitet. Und ich habe die IAAF-Spitze darauf hingewiesen, dass dieses Schreiben ein Ding der Unmöglichkeit ist.“ Diacks Sohn sei daraufhin abgemahnt worden. Später, als eine Ethikkommission im eigenen Haus kehrte, zeigte er den Vorgang an. Gegen ihn wird bis heute nicht ermittelt.
Rote Linien überschritten
Was also ist dem früheren Handball-Bundesliga-Spieler aus Stuttgart-Möhringen vorzuwerfen? Am ehesten wohl, dass er Stück für Stück ein Darsteller jenes Schauspiels wurde, dessen kritischer Beobachter zu sein er stets vorgab. Er saß mit am Tisch eines Mannes, der sich offenbar mit List und Tücke aus den Töpfen des Sports die Taschen füllte. Digel hat Lamine Diack immer misstraut, er war dessen Widersacher in vielen sportpolitischen Fragen. Aber offenen Widerstand hat er stets vermieden. Er gesteht ein: „Ich bin an diesem Mann gewissermaßen gescheitert.“ Von Diack wurden rote Linien überschritten. „Dass ich Fehler gemacht habe“, erkennt Helmut Digel inzwischen, „ist ohne Zweifel der Fall.“ Und akademisch korrekt fügt er hinzu: Sein Engagement für den Marketing- und Fernsehbereich der Leichtathletik sei wohl überdimensioniert gewesen im Verhältnis zu den nachlassenden Bemühungen um die Reformierung der Sportart selbst. Er hält inne, legt die Hände auf den Tisch und beharrt: „Ich habe mir nichts vorzuwerfen, ich habe mich über das normale Maß hinaus für die internationale Leichtathletik engagiert. Ich nehme für mich Integrität in Anspruch.“
Fragen nach persönlicher Eitelkeit und nach dem Genuss von Privilegien weicht er aus. Wer ihn in all den Jahren beobachtet hat, ist dennoch geneigt, ihm sein ehrliches Bestreben nach einer besseren Sportwelt abzunehmen. Seine persönliche Tragik liegt aber im Trugschluss, als Teil des Systems wirken zu können, ohne in irgendeiner Weise von ihm abhängig zu werden. Er erhob sich als Kritiker hartnäckig über ein Imperium, das nur auf die Gelegenheit wartete zurückzuschlagen. Auch im deutschen Sport wurden alte Rechnungen beglichen. Öffentliche Kritik verstößt gegen den Korpsgeist der Funktionäre. Trotzdem bleibt vieles von dem wahr, was Digel in seinen Kolumnen, Essays und Reden kritisierte. Der Kampf gegen Doping ist eine einzige Heuchelei, die Vergabe von Großveranstaltungen bleibt von Geheimniskrämerei umgeben, und die Zustände in den meisten internationalen Sportverbänden sind geprägt von Seilschaften, die sich gegenseitig bedingen.
Mehr Distanz zur Sportpolitik
Der Pensionär Helmut Digel berät den Deutschen Golf-Verband auf seinem Weg sich als olympische Sportart zu etablieren, hin und wieder reist er noch zu Gastvorlesungen nach China, er sitzt im Wissenschaftlichen Beirat des Deutschen Handballbunds (DHB).
Seine Distanz zum sportpolitischen Geschehen ist aber größer geworden. Auf einer Internet-Plattform www.sport-quergedacht.de formuliert er wohl weiter seine Gedanken, gleichzeitig gewinnt er seinem Leben neue Facetten ab. Im Garten pflegt er ein Gemüsebeet, mit den Montagsturnern radelt er regelmäßig auf die Berge. Und dort oben wird ganz klein, was ihm einst so groß und bedeutend erschien.