Der Tübinger Sportsoziologe Helmut Digel beendet nach mehr als 25 Jahren seine Tätigkeit in der Welt der Leichtathletik. Schweigen wird er aber auch künftig nicht.
Unterwössen - Helmut Digel ist Querdenker, Vordenker, Umdenker – die Beschreibungen für ihn sind so vielfältig wie die Disziplinen in der Leichtathletik. Die Aussage ist jedoch immer dieselbe: Seine Meinung hat sich der Sportfunktionär nie verbieten lassen, auch nicht, wenn es unbequem war.
An diesem Morgen sitzt Digel in seinem Garten, ein Stapel Zeitungen liegt auf dem kleinen Tisch neben ihm. Die Berge leuchten in der Sonne, die oberbayerische Alpenidylle ist perfekt. Bis das Handy klingelt. Es gibt Probleme in Peking. Nirgendwo in der Stadt hängen Plakate, die Leichtathletik-Weltmeisterschaft ist immer noch nicht präsent. „Dabei wird es bei dieser WM die größte Herausforderung sein, das Stadion zu füllen“, sagt Digel. Er will einen Termin mit dem Vize-Bürgermeister, am besten gleich mit dem Bürgermeister. So schnell wie möglich. Als Organisationsdelegierter ist der 71-Jährige mitverantwortlich für die WM. Sie soll sein letzter Erfolg als Leichtathletik-Funktionär werden. Der Mahner tritt zurück.
Digel räumt Ende dieses Monats seinen Platz im Council, einer Art Regierung des Weltverbands. Clemens Prokop, der Chef des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV), will seinen Platz in der IAAF übernehmen. An diesem Mittwoch stellt er sich der Wahl. „Er hat lange genug gewartet. Das ist nun zu akzeptieren“, sagt Digel. Ganz leicht fällt ihm sein Rückzug nicht.
Digel: „Die Leichtathletik hat sich nicht wesentlich zum Positiven verändert.
Die Reisen, die besonderen Erlebnisse bei Großveranstaltungen, das Amt und die damit verbundene Macht – diese Privilegien werden ihm fehlen. Gerne hätte er zudem die Chance gehabt, unter einem anderen Präsidenten als dem Senegalesen Lamine Diack zu arbeiten, dem Anti-Reformer, der gerne mal am Council vorbei entschieden hat. Und dennoch sagt Digel: „Ich bin froh, wenn es vorbei ist.“ Im Wettstreit mit anderen Sportarten um Fernsehpräsenz, Zuschauer und Sponsoren läuft die Leichtathletik hinterher. Manipulation und Betrug häufen sich. „Trotz all meiner Bemühungen hat sich die Leichtathletik in der Zeit, in der ich in der IAAF Verantwortung trage, nicht wesentlich zum Positiven verändert“, sagt Digel.
Beinahe 100 Aufsätze und Beiträge – auch in unserer Zeitung – hat er zum Thema Doping geschrieben, drei Bücher hat er dazu veröffentlicht und immer wieder mit seinen Ideen die Öffentlichkeit gesucht, was nicht jeder im Weltverband gerne sieht. „Doch wenn ich bilanziere, was erreicht worden ist, ist es frustrierend“, sagt Digel, „ich musste erkennen, dass ich mit meinen Vorschlägen nur selten erfolgreich war.“ Zumindest im internationalen System.
Für den ehemaligen DLV-Präsidenten ist es eine Genugtuung, dass zumindest in Deutschland ein Vorschlag für ein Anti-Doping-Gesetz auf dem Tisch liegt. „Ich habe das schon 1993 gefordert“, sagt er. Der DLV sei zudem immer Vorreiter im Kampf gegen Doping gewesen. „Am Ende meiner Amtszeit bleibt jedoch das Unbehagen, der Sache international nicht Herr geworden zu sein“, meint das scheidende Council-Mitglied.
Der Fall Baumann war ein Kratzer in seiner Karriere.
Der frühere Bundesliga-Handballer der SV Möhringen kam als Quereinsteiger zur Leichtathletik. Digel ist Sportsoziologe, bis 2010 leitete der Professor das sportwissenschaftliche Institut der Universität Tübingen. Erst Ende der 80er-Jahre kam er in Kontakt mit der Leichtathletik. 1993 wurde Digel zum DLV-Präsidenten gewählt: Es war der Start für seine Karriere als Funktionär – mit ganz verschiedenen Ausprägungen.
Digel führte für den Weltverband die Verhandlungen bei Fernsehverträgen, er arbeitete in der Entwicklungskommission mit, und von 2001 bis 2007 stand er als Vizepräsident an der Spitze der IAAF. „Es war für mich äußerst spannend, diese Doppelfunktion zu haben“, sagt Digel. Einerseits war er Wissenschaftler, auf der anderen Seite als Funktionär Teil des Phänomens, das er untersucht hat. Kaum einer hat das System und seine Einflüsse so verstanden wie Digel, kaum einer kann es so auf den Punkt analysieren. Genutzt hat ihm das nicht immer.
1999 wurde 5000-Meter-Olympiasieger Dieter Baumann positiv auf Steroide getestet, weil seine Zahnpasta manipuliert worden sei, meinte der Athlet. Es folgte eine schier unendliche Kette juristischer und sportpolitischer Akte: Digel wollte Baumann beim Gang durch die Instanzen zur Seite stehen, „doch ich war schlecht beraten, den Verband irgendwann nicht mehr auf meiner Seite zu haben. Im Nachhinein habe ich Zweifel an meinen damaligen Entscheidungen“, sagt Digel. Der Fall Baumann war ein Kratzer in seiner Funktionärskarriere.
Digel will den Chiemgau genießen.
Nun gibt Digel sein letztes Amt in der Leichtathletik-Welt auf. „Es ist an der Zeit, sich zu überlegen, was ich mit meinen übrigen Lebensjahren noch erreichen möchte“, sagt er. Mehr Zeit für seine Frau Sabine und die drei Enkel, den Chiemgau genießen, mit dem Fahrrad im Sommer und den Skiern im Winter, noch öfter an den kleinen See in Unterwössen fahren – das hat sich der 71-Jährige vorgenommen. Zwei, drei Bücher will er zudem noch schreiben und den Sport weiter verfolgen – denn schweigen will der Mahner auch künftig nicht.