Akrobaten gegen Tänzer: Helena Waldmann zeigt, was Ausgrenzung bewirkt. Foto: Wonge Bergmann

Welcher Blickwinkel ist besser? Der Tanz? Dann ist Helena Waldmanns neues Stück zurückhaltend. Die Akrobatik? Da ist in „Gute Pässe Schlechte Pässe“ viel geboten. Vor allem aber zeigt die Produktion, die nun in Ludwigshafen uraufgeführt wurde, wie Ausgrenzung funktioniert.

Ludwigshafen - Es ist schon eine Provokation, wenn in einem Kunsttempel der moderne Tanz von einem Zirkusartisten persifliert und dabei mächtig durch den Kakao gezogen wird. So geschehen in Helena Waldmanns neuem Tanzstück „Gute Pässe Schlechte Pässe“. Als Koproduktion von acht Kultureinrichtungen, darunter Eric Gauthiers Festival „Colours“, erlebte das kaum eine Stunde dauernde Werk am Samstag im Theater im Pfalzbau in Ludwigshafen seine Uraufführung.

Wie schon in ihrer vorangegangenen Produktion „Made in Bangladesh“ hinterfragt die Berliner Tanzregisseurin darin nicht nur gesellschaftspolitische Zustände, sondern auch die Normen im Kulturbetrieb. Schlug Helena Waldmann zuvor den Bogen von Billiglöhnen in Fernost zu den selbstausbeuterischen Bedingungen, die für das Gros der deutschen Bühnenkünstler gilt, thematisiert sie nun die Ab- und Ausgrenzung von Artisten, deren Arbeit mit dem Körper nicht als förderwürdige Kunst gewertet wird. Der Clou daran: Ihren inszenierten Wettstreit zwischen der U- und E-Sparte lässt sich zugleich als Sinnbild für eine Welt lesen, in welcher der privilegierte Teil der Menschheit den anderen und vermeintlich primitiveren auf Abstand hält.

Diese Doppeldeutigkeit macht es kaum mehr möglich, zwar die globale Lage als schief anzuerkennen, bei der Frage nach der Wertigkeit der Körpersprachen dann aber den Tanz zu favorisieren. Die Mauer im Kopf wird zumindest erschüttert. Dennoch zeigt die Inszenierung auch, wie erschöpfend eine noch so spektakuläre Flickflack-Folge auf Dauer ist, während die Tänzer mit viel weniger Körpereinsatz Komplexes erzählen.

Vier Tänzer konkurrieren mit drei Akrobaten

Verfassung, Glaube und Krieg: So nennt Waldmann ihre drei Kapitel, in denen vier Tänzer mit drei Akrobaten konkurrieren, assistiert von einem als mobile Mauer oder manipulierbare Masse fungierendem Laienchor. Alle zusammen stehen für die gesamte Menschheit.

Jedes Kapitel beginnt mit einem lebenden Tableau. Erst stellen die Protagonisten die 1945 entstandene Aufnahme vom Hissen der US-amerikanischen Flagge auf der japanischen Insel Iwo Jima nach, dann eine Kreuzabnahme, schließlich Francisco de Goyas „Erschießung der Aufständischen“. Diese Gruppenbilder lösen sich immer wieder auf und bilden zwei Lager, die mit ihrer jeweiligen Ausdrucksform und wachsender Härte das Geschehen zu bestimmen suchen. Dazu erklingt in drei Versionen der derzeit fast zynisch anmutende Song „We Are the World“ aus der Feder von Michael Jackson und Lionel Richie, mit dem 1985 Bob Geldofs Live-Aid-Benefizkonzert für Afrika gekrönt wurde. Lang ist die kitschige Melodie nie zu hören, pulsierende Rhythmen und schärfere Klänge verschlucken sie.

Prägnant bringen die Darsteller die Grenzen auf den Punkt, die eine gemeinsame Sprache fürs gegenseitige Verständnis hat: „Rolle“, sagt der Artist Tjorm Palmer und überschlägt sich aus dem Stand nach hinten. „Rolle“, sagt der britische Tänzer Declan Whitaker, geht in die Hocke und kugelt sacht zur Seite. Im nächsten Moment wirft er sich mit zu Dreiecken geformten Händen über dem Kopf in Pose und ruft „das ist meine Prinzen-Rolle“. Die prächtig breite Krone ist reine Imagination.

Mit raumgreifenden Bewegungen und wie Mühlradflügel zirkulierenden Armen verteidigen die Tänzer gegenüber den Eindringlingen aus dem Feld des Varietés ihr Terrain. Einmal reichen sich Bühne und Manege die Hand, doch schon bald hält ein geflexter Fuß den fragwürdigen Kollegen auf Abstand. So bleibt den Akrobaten anfangs nur die Vertikale, eine haushohe Stange, an deren Spitze Seile zusammenlaufen: der Umriss eines Zirkuszeltes.

Es gilt, die Störenfriede zu unterwerfen

Neu gemischt wird die gesamte Truppe, von Kostümdesignerin Judith Adam einheitlich in Schwarz gekleidet, durch Aussagen, die mit „Ja“ – Aufstellung rechts – und „Nein“ – Aufstellung links – zu bestätigen sind: „Ich spreche Deutsch.“ „Ich bin vorbestraft.“ „Ich zahle Steuern.“ „Ich habe zwei Pässe.“ Ständig bilden sich neue Schnittmengen innerhalb der dreigeteilten Grundordnung. Wer wie die Tänzer unter sich bleiben will, muss da schon zu drastischen Maßnahmen greifen: Nachdem die Markierung, die den Bühnengrund optisch teilt, mittels Leiter und Luftakrobatik überwunden wurde, kennzeichnen die Tänzer ihr Gesicht mit Farbe. Grün-blaue Kriegsbemalung!

Nun gilt es, die Störenfriede zu unterwerfen. Grob wie ein IS-Kämpfer das Haupt seines Opfers packt der Tänzer Chris Jäger den Akrobaten Carlos Zaspel am Schopf und schleudert ihn wie eine erlegte Beute über die Bühne. Als der Artist wehrlos am Boden liegt, impft Jäger ihn mit seiner Weltanschauung, indem er ihn mit seiner Farbe besudelt und salbt.

Keine der einprägsamen Szenen bewegt sich auf eingleisiger Bahn. Die Parallelsetzung von Weltgeschehen und Theaterleben hat eine frappierende Wirkung, weil sie eine Ahnung davon gibt, wie umfassend Gleichberechtigung gedacht werden muss. Wenn „Gute Pässe Schlechte Pässe“ mit der Frage endet, ob die Menschheit einmal ohne Grenzen auskommen wird, scheint das Ensemble die Antwort darauf zu verweigern und gibt sie doch: in der raumfüllenden, gleichrangigen und völlig durchmischten Anordnung aller Darsteller. Einmal mehr vertraut Helena Waldmann dem Körper, wenn es darum geht, Position zu beziehen.

Im Rahmen des internationalen Tanzfestivals Colours ist „Gute Pässe Schlechte Pässe“ am 14. und 15. Juli am Theaterhaus Stuttgart zu sehen. Kartentelefon: 4 02 07 20 oder per Mail: tickets@theaterhaus.com.