Heiner Brand hat als Spieler und Trainer den WM-Titel geholt. Noch immer ist der Mann mit dem markanten Schnauzbart das Gesicht des deutschen Handballs. Bei der EM in Polen traut er der Nationalmannschaft einiges zu: „Vieles ist möglich, auch eine Medaille“, sagt er vor dem Start an diesem Samstag (18.30 Uhr/ZDF) gegen Spanien.
Stuttgart – Herr Brand, grassiert bei Ihnen schon das EM-Fieber?
Ach, ich bin jetzt ja auch schon viereinhalb Jahre nicht mehr als Bundestrainer im Amt. Da baut sich eine gewisse Distanz auf. Aber ich kenne die meisten Spieler aus ihrer Zeit bei den Junioren und verfolge ihre Entwicklung mit großem Interesse.
Wo schauen Sie sich die Spiele an?
Die meisten vom heimischen Sofa in Gummersbach aus.
Kochen da manchmal die Emotionen hoch?
Das kann durchaus passieren. Bei einer verpassten Großchance in der entscheidenden Phase kann schon mal die Faust auf dem Wohnzimmertisch aufschlagen.
Was trauen Sie der deutschen Mannschaft zu?
Vieles ist möglich.
Auch eine Medaille?
Es wird kein Selbstläufer, aber sicher ist auch eine Medaille möglich, denn ich sehe keine Übermannschaft. Gut, Welt- und Europameister Frankreich dürfte weiter eine Klasse für sich sein, alle anderen Nationen sehe ich auf unserem Niveau.
Auch Dänemark, Spanien, Kroatien und Polen?
Ja, alle diese Mannschaften haben doch das Problem, dass sich in ihren Kadern wenig verändert hat. Keine viel versprechenden Talente kommen nach. Die Situation bei uns ist doch völlig anders. Dieses Team hat eine tolle Perspektive. Mit so vielen jungen, guten Spielern kann keine andere Nation aufwarten.
Heißt das, die deutsche Nationalmannschaft wird schon bald den Welthandball dominieren?
Wie gesagt, die Konstellation ist besser als in jedem anderen Land. Deshalb wäre es sogar logisch, dass Deutschland die dominierende Rolle im Welthandball spielt. Aber es können natürlich immer auch Verletzungen dazwischenkommen.
Warum bekommen junge Spieler wie Rune Dahmke oder Christian Dissinger auch bei einem THW Kiel plötzlich die Spielanteile, die Sie einst gebetsmühlenartig gefordert haben?
Früher wollte meine Worte keiner hören, es wurde auf Durchzug geschaltet. Ich glaube, dass viele Vereine sich inzwischen über die finanziellen Rahmenbedingungen intensivere Gedanken machen. Und dann tun sich selbst Topteams wie der THW Kiel oder die Füchse Berlin leichter, vermehrt jungen Leuten eine Chance zu geben. Zumal, wenn diese schon während ihrer Juniorenzeit eindrücklich auf sich aufmerksam gemacht haben.
Der aktuelle Bundestrainer war in seiner Zeit als Füchse-Coach ein leuchtendes Vorbild.
Auf jeden Fall. Dagur Sigurdsson hat Spieler wie Paul Drux und Fabian Wiede ins kalte Wasser geworfen. Dazu gehört Mut und eine gewisse Philosophie. Dagur macht auch jetzt mit der Nationalmannschaft eine sehr gute Arbeit.
Was die EM betrifft, stapelt er aber etwas tief.
Ich habe auch gelesen, dass es gilt, einen Platz zwischen neun und zwölf zu bestätigen, weil wir in Topf drei eingestuft wurden. Aber dies sind seine Worte, die er nach außen gibt.
Intern gibt er andere Ziele aus?
Fest steht: Platz neun kann nicht der Anspruch der deutschen Nationalmannschaft sein. Das Team befindet sich absolut im Aufschwung. Und Dagur hat ja auch selbst gesagt, dass alle Nationen vor seinem Team wieder Respekt haben.
Das Verletzungspech hat ordentlich zugeschlagen. Wie sehr wirkt sich dies aus?
Vor allem durch den Ausfall von Uwe Gensheimer fehlen Tore, die sonst keiner macht. Wie er die Bälle mit seinem Gummihandgelenk einen halben Meter von der Grundlinie aus ins Tor zaubert, ist schon phänomenal.
Hinzu kommt, dass sein kongenialer Partner auf der rechten Seite auch nicht mit von der Partie ist.
Klar, diese bei den Rhein-Neckar Löwen eingespielte Flügelzange mit Uwe und Patrick Groetzki harmoniert beim Tempogegenstoß mit ihrem schnellen Passspiel perfekt. Da können pro Spiel leicht mal drei bis vier Tore in der Endabrechnung fehlen. Weh tut natürlich auch der Ausfall von Kreisläufer Patrick Wiencek in Angriff und Abwehr. Aber wissen Sie was . . .?
Bitte.
Ausfälle gibt es doch immer wieder. Die haben andere Nationen genauso, und auch ich musste früher oft auf Führungsspieler verzichten. Denken Sie nur an Daniel Stephan. Er war Welthandballer, hat aber verletzungsbedingt nicht bei einem WM-Turnier teilgenommen.
Fehlen dem aktuellen Team nicht emotionale Führungsfiguren. Typen mit Ecken und Kanten, die das Team puschen.
Einen Christian „Blacky“ Schwarzer gibt es derzeit vielleicht nicht im Team. Dennoch glaube ich nicht, dass wir eine zu brave Mannschaft haben. Christian Dissinger und Hendrik Pekeler bringen eine gewisse Frechheit mit. Das ist ganz wichtig. Martin Strobel und Steffen Weinhold sind zwar ruhige Typen, ähnlich wie es früher auch mein Spielmacher Markus Baur war, aber auf jeden Fall sind sie Persönlichkeiten.
Carsten Lichtlein und Andreas Wolff konnten in der Vorbereitung nicht überzeugen. Hat Deutschland ein Torwart-Problem?
Nein. Carsten Lichtlein hat schon bei der WM in Katar bewiesen, dass er auf einem sehr hohen Niveau spielen kann. Wolff in der Bundesliga genauso.
Es ist also kein Fehler, Silvio Heinevetter nicht mit nach Polen zu nehmen?
Silvio hat in der Bundesliga bei den Füchsen nicht so dominant gespielt, aber der Bundestrainer hat ja immer noch die Möglichkeit, während des Turnier zu wechseln und ihn zu bringen.
Wo sehen Sie die Stärken des deutschen Teams?
Die enorme Power aus dem Rückraum ist sicher ein Trumpf der Mannschaft. Dazu die Geschlossenheit und die hohe Motivation: Die Jungs sind enorm heiß, sich zu beweisen.
Die Verantwortung der Nationalmannschaft für die Sportart ist hoch.
Daran hat sich nichts geändert. Es gibt nicht wie in anderen Sportarten einen übers Jahr verteilten Weltcup. Der Handball steht einmal im Jahr bei einem großen Turnier im Fokus. Das ist die Chance, die genutzt werden muss. Da gibt es kein Übergangsjahr mit Blick auf eine Zielsetzung in fünf Jahren. Erfolge der Nationalmannschaft puschen die komplette Sportart in Deutschland.
Das kann nach den Turbulenzen in der DHB-Führungsetage und dem Finanzdesaster beim HSV Hamburg nicht schaden.
Leider tauchen auch in anderen Sporarten immer wieder Clubs mit finanziellen Problemen auf. Das ist schade und färbt natürlich auf den kompletten Handball ab. Die Ränkespiele rund um das DHB-Präsidenten-Amt sind vorbei und im Augenblick kein Thema mehr. Jetzt steht der Sport im Vordergrund.
Werden wir Sie noch einmal in verantwortlicher Position im Handball sehen?
Nein, ich hatte seit meinem Ausscheiden nicht einmal das Bedürfnis, wieder einzusteigen.
Ihre Frau freut sich.
Ich nerve sie zumindest nicht (lacht). Ich bin noch viel unterwegs. Das Kommentieren der Champions-League-Spiele bei Sky macht mir Spaß, und nebenbei bin ich bei meinem Heimatclub VfL Gummersbach im Beirat beratend tätig.
Haben Sie noch eine Idee, die dem Handball neue Impulse geben könnte?
Die Aussage, dass die Nationalmannschaft jetzt einen Titel holen soll, werden Sie von mir nicht hören. Vielleicht wäre die Einführung einer Weltliga eine Chance, die Sportart nach vorne zu bringen, attraktiver zu machen. Sie hätte sehr viel Potenzial und weltweite Strahlkraft. Andererseits muss man auch schauen, dass der Bundesliga die Luft zum Atmen erhalten bleibt.