„Heimweh & Verbrechen“ heißt der Abend, mit dem der Schweizer Regisseur Christoph Marthaler an das Hamburger Schauspielhaus zurückkehrt. Foto: dpa

Christoph Marthaler inszeniert „Heimweh & Verbrechen“ am Deutschen Schauspielhaus Hamburg.

Christoph Marthaler inszeniert „Heimweh & Verbrechen“ am Deutschen Schauspielhaus Hamburg.

Hamburg - Im Flugzeug, im Blick von ganz oben, gefällt sie einem am besten, die sonst so grausige, schroffe Welt – nun plötzlich zu miniaturhafter Niedlichkeit zusammengeschnurrt. Mit der Heimat, diesem schwurbelpsychologisch vertrakten Konstrukt, verhält es sich ganz ähnlich: Je weiter man sich von ihr entfernt, desto schöner, unentbehrlicher kommt sie einem vor –wird man gar gegen seinen Willen von ihr ferngehalten, vergisst man über tiefen Sehnsuchtsächzern, dass man jemals von ihr fortwollte. Und wird im grotesk missverstandenen Namen der Heimatliebe zu schlimmsten Taten fähig.

„Heimweh & Verbrechen“ heißt der Abend, mit dem der Schweizer Regisseur Christoph Marthaler an das Hamburger Schauspielhaus zurückkehrt. Weite Teile des Stücks basieren auf der gleichnamigen Doktorarbeit des Psychiaters und Philosophen Karl Jaspers von 1909, in der er Morde untersuchte, die von Schweizer Kindermädchen im 19. Jahrhundert begangen wurden – aus Heimweh. Die sogenannten Verdingkinder, die von ihren Eltern in die Fremde geschickt wurden, hätten sich, so Jaspers, dort derart verloren gefühlt, dass sie den Grund ihres Heimatentzugs auslöschen wollten, um sodann – ihrer Bürde entledigt – froh nach Hause zurückkehren zu können.

Krankhaft, natürlich. Weswegen das Bühnenbild von Anna Viebrock zwar die Auswanderer-Halle der Hamburger Schifffahrtsgesellschaft Hapag nachbildet, das letzte Stück Deutschland, von dem von 1901 an die Menschen Schiffe nach Amerika bestiegen – trotzdem sieht diese Halle auch aus wie der Gemeinschaftsraum eines Sanatoriums oder einer psychiatrischen Anstalt. „Mein Feld ist die Welt“, steht über der Türe.

Miteinander wird nicht viel gesprochen an diesem Abend, der halb Musiktheater, halb finsterst-pathologische Nummernrevue ist. Eine Figur nach der anderen beichtet ihre düsteren Heimwehtaten. Bedrückend sachlich wie Josef Ostendorf, der das Protokoll einer Gerichtsverhandlung verliest, in dem ein junges Kindermädchen den Mord an einem Kleinkind gesteht. Schrecklich klar sind diese Schilderungen, als beschrieben sie eine Haushaltsverrichtung: „Mit der linken Hand hielt ich dem Kinde den Mund zu, während ich mit der rechten ihm die Kehle zudrückte.“

Dazwischen wird gesungen, viel gesungen, Volkslieder wie „Nun leb wohl, du mein lieb Heimatland“ und „Auf einem Seemannsgrab, da blühen keine Rosen“. Zwischendurch schneidet Martin Schütz am E-Cello tiefe Schneisen in die verklärte Idylle. Clemens Sienknecht glänzt als scharf gescheitelter Steifmensch, ein Heimatskummerverwalter mit Passion für Heimkakteen, und massiert die wunden Singseelen bei seinen hochamüsanten Dirigenteneinsätzen, bei denen er mit wachsweicher Gummihand bald die Luft liebkost wie eine unsichtbare Schnurrkatze, bald mit zackigen Armreißern den Gesang verhackstückt wie ein remixwütiger DJ. Am Ende verswingt er „Kommt ihr Töchter, helft mir klagen“ aus Bachs „Matthäuspassion“ zum ätzend-gut gelaunten Partykracher.

Viele doppelte Bedeutungsböden geben diesem Abend mehr Dimension, was ihm sehr guttut. Regisseur Marthaler selbst beispielsweise kehrt in „Heimweh und Verbrechen“ nach 15 Jahren an das Theater zurück, das ihm zeitweilig kreative Heimat bot. Vor allem aber eine aktuelle politische Groteske hebt das Stück auf eine andere Ebene: eine dramaturgisch kostbare Koinzidenz, dass die Schweizer Eidgenossen sich gerade jetzt per Volksabstimmung für eine Begrenzung der Zuwanderung aussprachen.

So grausam wie die geschilderten Gewaltakte kann schließlich auch die verstörende Verklärung von Heimat als unbedingt bewahrenswertes, einzäunungswürdiges und abschottungsbedürftiges Stück Erde sein. „La maladie suisse“ wird Heimweh auch genannt: „die Schweizer Krankheit“.

Weitere Aufführungen am 2., 21., und 26. März. Karten unter Telefon 040 / 2 48 71 - 3 und kartenservice@schauspielhaus.de