Christian Schwinge vor der Erlöserkirche in Stuttgart-Nord Foto: Michael Steinert

Christian Schwinge kennt die Gegensätze in der evangelischen Nordgemeinde von Kindesbeinen an. Er kann sich kaum vorstellen, woanders zu leben.

S-Nord - Manchmal, wenn er auf dem Heimweg durch die Birkenwaldstraße fährt, parkt Christian Schwinge seinen schnellen schwarzen Wagen an der großen Linkskurve, wo die Bänke stehen, steigt aus und blickt über die Stadt. Verschnaufen, innehalten, den Tag Revue passieren lassen – die Aussichtsplattform ist für ihn ein Ort der Ruhe und der Muße. Der Unternehmer ist Vorsitzender der evangelischen Nordgemeinde und mit seinen 32 Jahren der Jüngste in Stuttgart, der ein solches Amt bekleidet. Und Schwinge ist ein echtes Nordlicht. Seit Kindesbeinen ist er dem Norden der Stadt treu geblieben, selbst seine Firma hat ihren Sitz an der Heilbronner Straße, der Trennlinie zwischen den begüterten Höhenlagen am Killesberg und den sozialen Brennpunkten im Quartier um den Nordbahnhof.

Schwinge kennt beides. Nicht nur als Kirchenmann, sondern aus persönlicher Erfahrung. Aufgewachsen ist er in der Rosensteinstraße, deren Mietshäuser früher noch vorwiegend von Post- und Bahnbeamten und deren Familien bewohnt waren. Schwinge stammt aus einem Eisenbahnerhaushalt. „Im Rosensteinpark haben wir gespielt. Als die Internationale Gartenschau dort war, hatten wir eine Dauerkarte, und das Gebiet um die Ökostation Wartberg und der Egelsee war für uns Kinder faszinierend“, erzählt er. Das war vor 20 Jahren. Als Konfirmand leitete Schwinge selbst Freizeitangebote für Kinder, und als Jugendlicher stieg er beim Evangelischen Jugendwerk ein und hat mit den Knirpsen die typischen Ausflüge mit Rucksack und Würstchenbraten am Lagerfeuer gemacht.

Engagement und Spaßfaktor sind ineinander verzahnt

Aber auch den Stadtbezirk hat er mit ihnen erkundet: „Wir haben die Diakoniestation und andere Einrichtungen zusammen besucht“, erinnert er sich. Außerdem hat Schwinge das kirchliche Jugendcafé geleitet, das es heute nicht mehr gibt. Dort im Café traf er seine Freunde – und obendrein brachte ihm die Mitarbeit hinter der Theke die Genehmigung der Eltern ein, länger als bis 22 Uhr wegzubleiben.

Und so sind Engagement und Spaßfaktor bis heute bei Schwinge ineinander verzahnt. „Ich habe noch nie über mein Ehrenamt gestöhnt. Ich habe es noch nie als Bürde empfunden. Meine Motivation ist mein Heimatgefühl“, sagt er.

„Wenn ich abends die Tür meines Büros zumache, freue ich mich, wenn ich danach im Kirchengemeinderat mit ganz anderen Menschen zusammenkomme.“ Drei bis vier Kirchentermine pro Woche hat er und ist der Ansprechpartner für viele verschiedene Angelegenheiten.

„Ich habe hier alles, um glücklich zu sein“

Während seines Zivildienstes, den er ebenfalls in der Nordgemeinde abgeleistet hat, hat er bunte Nachmittage für Senioren organisiert, Essen ausgefahren und alten Menschen im Haushalt geholfen. Und während des Studiums an der Universität Hohenheim – natürlich blieb er auch da im Norden wohnen – hat er im Gemeindehaus der Erlöserkirche einen Raum gemietet und dort schon seine IT-Firma aufgebaut. Heute hat er Kunden in ganz Deutschland, aber der Prozentsatz derer, die aus dem Stuttgarter Norden sind, ist immer noch beträchtlich: Rechtsanwälte, Architekten, Steuerberater, Privatkunden. „Ich habe hier alles, um glücklich zu sein.“ Beruflich ist er viel unterwegs, aber immer wieder sei er froh, wenn er wieder zu Hause ist. „Für ein Projekt könnte ich mir schon vorstellen, mal ein paar Monate im Ausland zu leben, aber nicht für immer.“

In der Kindheit im Nordbahnhofviertel trug er Zeitungen aus und ärgert sich über die Vorurteile, die über das Quartier im Umlauf sind. „Ich hatte dort nie negative Begegnungen. Außerdem kann man in jedem Stadtteil Ärger bekommen.“ Über mehrere Umzüge gelangte Schwinge immer weiter in die begüterten Bereiche des Killesbergs. Heute lebt er am Herdweg. Die Trennungslinie zwischen Arm und Reich, Privilegiert und Unterprivilegiert, unten und oben, die sich seit der 1997 erfolgten Fusion der evangelischen Kirchengemeinden durch den Norden zieht, bereitet Schwinge Kopfzerbrechen. „Ich selbst bin in der Martinskirche getauft“, erzählt er. Oben auf der Höhe liegen die Brenz- und die Christophkirche. Dazwischen bildet die Erlöserkirche als Stadtkirche das verbindende Zentrum.

Die Klischees und Vorurteile auf beiden Seiten der Heilbronner Straße seien unter den Christen in der evangelischen Nordgemeinde zwar weitgehend abgebaut, aber dennoch sollte die Annäherung fortschreiten, wünscht sich der Kirchengemeinderatsvorsitzende. „Die Stuttgart-21-Baustelle könnte noch einiges dazu beitragen“, überlegt Schwinge. „Von meinem Büro aus habe ich die Baustelle genau im Blick“ – eine Aussicht, die ihn hoffen lässt, dass das Projekt städtebaulich die Gräben überbrücken könnte: „Die Neubaugebiete werden viele jüngere Familien anziehen, und so könnte das Gebiet zusammenwachsen.“