Mutter Teresa in Indien im April 1995. Foto: dpa

„Engel der Gosse“ ist sie zu Lebzeiten genannt worden. Am 4. September wird Mutter Teresa aus Skopje von Papst Franziskus in Rom heilig gesprochen. Sie ist allerdings durchaus umstritten.

Rom - Vor der Haustür mit der Nummer 54 a an der A.J.C. Bose Road war es bereits dunkel. Die schlichten Holzmöbel drückten nach ein paar Minuten unbequem im Rücken, als Mutter Teresa damals an einem Abend Anfang des Jahres 1996 endlich eine halbe Stunde Zeit fand, um mit ein paar deutschen Reportern zu sprechen.

Auf den ersten Blick wirkte der „Engel der Gosse“, wie sie bewundernd genannt wurde, etwas verhutzelt. Aber Mutter Teresa entpuppte sich – eine gutes Jahr vor ihrem Tod – schnell als sprühendes Energiebündel samt unerschütterlichem Tatendrang und erzkonservativen Ansichten. „Wir sind hier um zu helfen. Uns interessiert nicht, warum die Leute arm sind“, beschrieb die Gründerin des Ordens ihre Devise und wackelte mit ihrem Zeh in den Riemensandalen.

Unvorstellbares Elend in Kalkutta

Kolkata, laut Statistiken die drittreichste Stadt Indiens nach der Wirtschaftsmetropole Mumbai und der Hauptstadt Delhi, trug während der Begegnung noch den Namen Kalkutta. Der Name der Metropole im Osten des Landes stand für das schier unvorstellbare Elend, das einst als Synonym für Südasien galt. Verwaschene und vernachlässigte Fassaden, baufällige Bauten, Tausende von Menschen, die nachts auf aus der Kolonialzeit stammenden Fußgängerwegen übernachteten passten in das Klischee auswegloser Not.

1943 hatte noch zu Zeiten britischer Herrschaft eine Hungersnot Millionen von Toten in Kalkutta weggerafft. Nach der Gründung Indiens gab es bei der blutigen Trennung von Pakistan und Indien Hunderttausende von Toten. Zwei bis drei Millionen Flüchtlinge strömten aus Ost-Pakistan – heute Bangladesch – nach Kalkutta.

Jungen Leuten nahe bringen

„Mutter Teresa wäre ohne Kalkutta nicht möglich gewesen“, sagte in diesen Tagen der 39-jährige Brite Gautam Lewis. Den jungen Mann, der heute unter anderem einen Pilotenschein besitzt und gerade in Kolkata einen Film über das Leben und Wirken von Mutter Teresa vorstellt, würde es ohne die gebürtige Albanerin möglicherweise auch nicht geben. Als Säugling erkrankte Lewis an Polio und landete auf glücklichen Umwegen in einem Kinderheim in Kalkutta. Im Alter von drei Jahren vermittelten ihn die „Missionarinnen der Nächstenliebe“ im Rahmen eines umstrittenen Adoptivprogramms an Eltern in Großbritannien. „Ich will mit meinem Film Mutter Teresa wieder jungen Leuten nahebringen“, begründet Lewis seinen Film über die Gründerin des Ordens.

Damals bei dem Treffen an einem kühlen Januarabend im Jahr 1996 in dem Raum des heutigen Mutterhauses des Ordens, in dem Mutter Teresa heute in einem steinernen Sarkophag liegt, war die aus Skopje in Albanien stammende Nonne dank des Friedensnobelpreises im Jahr 1979 längst so berühmt, dass selbst Kubas kommunistische Ikone Fidel Castro der katholischen Ikone in der weiß-blauen Tracht und ihren Mitschwestern die Tore öffnete. Doch kein einziger der deutschen Journalisten zog damals während der Begegnung die Möglichkeit in Betracht, dass der Vatikan dank der Bemühungen von Papst Johannes Paul II. die lebhafte Nonne mit dem zerfurchten Gesichts, und den von Arbeit gezeichneten Händen im Rekordtempo gut 20 Jahre später am 4. September heilig sprechen würde.

„Engel der Gosse“

In Rom hatten die Kardinäle 1996 noch nicht beschlossen, dass die Zukunft der katholischen Kirche in Asien liegen würde. In Indien, fünf Jahrzehnte lang die Wahlheimat von Mutter Teresa, überwog Ehrfurcht vor dem Einsatz der aus Skopje stammenden Frau die religiöse Hetze, mit der heutzutage führende Hindunationalisten des Landes bis hin zu Mohan Bhagwat, dem einflussreichen Chef der radikalen Hindu-Organisation RSS, die Nachfolgerinnen von Mutter Teresa überschütten. Der „Engel der Gosse“, wie die Nonne unter anderem genannt wurde, habe statt Wohltätigkeit nur ein Ziel im Sinn gehabt: Die Inder zum Christentum zu überzeugen. Mutter Theresa kannte solche Kritik an ihrer Arbeit. Schließlich veröffentlichte im Jahr 1995 der Author Christopher Hitchens bereits sein Buch mit dem polemischen Titel „Die Missionarsposition: Mutter Teresa in Theorie und Praxis“.

Er warf den „Missionarinnen der Nächstenliebe“ vor, Armen und Kranken zu helfen, um die Verbreitung ihres fundamentalistischen katholischen Glaubens zu fördern. Der „Engel der Gosse“ bestärkte solche Vorhaltungen mit ihrer Bereitwilligkeit, vor einer Volksabstimmung in Irland für die Gegner eines Scheidungsverbots die Trommeln zu rühren.

Mutter Teresas grundsätzliche Ablehnung von künstlicher Familienplanung und Abtreibung als – so ihre Worte – „Mord im Mutterleib“ schien schon Mitte der 1990er Jahre wenig zeitgemäß. Andererseits wirken ihre Worte angesichts der Abtreibung von Millionen von weiblichen Föten in Indien auf der Basis von Ultra-Schall-Geschlechtserkennung heute wie ein düsteres Orakel über die Gegenwart.

Theologie des Leidens

Die Theologie des Leidens, wie manche Kritiker die Weigerung der „Missionarinnen der Nächstenliebe“ nannten, Ursachen von Armut und Elend zu bekämpfen, entstand Ende der 1950er Jahre, als nach den Schrecken des Weltkriegs plötzlich Hungerepidemien, Cholera und Tuberkulose die Menschheit bedrohten. Rund um das Khaligat im Zentrum von Kolkata, über dem auch in der Gegenwart der Gestank geronnenen Bluts von Tieropfern steht, starben damals in der Gosse Dutzende Menschen, um die sich niemand kümmerte.

Mutter Teresa versuchte nicht nur als Erste, sondern zunächst auch als Einzige mit ihrem Sterbeheim während der letzten Tage die Leiden todgeweihter Menschen zu lindern, die sie sprichwörtlich aus der Gosse holte. Die spätere Kritik, die Nonnen hätten mehr für die Kranken tun können, mag richtig sein. Ob die Möglichkeiten tatsächlich unter damaligen Bedingungen möglich war, ist heute schwer zu beurteilen.

„Es war die Zeit von Albert Schweitzer“, beschrieb vor ein paar Jahren die aus München stammende, damals 71jährige Ärztin und Nonne Schwester Andrea gegenüber dieser Zeitung ihr Motiv, Anfang der 1950er Jahre ihre deutsche Heimat hinter sich zu lassen, „in Frankreich gab es die Arbeiterpriester“. Eine monatelange Irrfahrt über die Weltmeere brachte die Frau schließlich zu ihrem Ziel Kalkutta. Schwester Andrea arbeitete als Leiterin eines Kinderheims mit dem Ziel: „Ich wollte Gutes tun.“

„Missionarinnen der Nächstenliebe“

Die Einstellung der Ärztin klang damals so überholt, wie der feste Wille der „Missionarinnen der Nächstenliebe“, nach dem Tod von Mutter Teresa im Jahr 1997 so weiter zu machen wie die Ordensgründerin des vorgelebt hatte. „Es gibt keinen Grund, unsere Linie zu ändern“, hieß es damals im Mutterhaus des Ordens.

Wenige Tage vor der Heiligsprechung von Mutter Teresa scheint es, als ob die Nonnen in den blau-weißen Kutten mit ihrem Beharren, lediglich zu helfen und keine Fragen nach den Ursachen zu stellen, weitaus zeitloser sind als ihre Kritiker. Jedenfalls gehören die Zeiten, in denen Hilfsorganisationen, Staaten, Vereinte Nationen oder Kirchen versuchten, die Wurzeln von Armut, Konflikten und Elend zu beseitigen, vorübergehend der Vergangenheit an.

Wirtschaftshilfe dient heutzutage vor allem zur Unterstützung der eigenen Ökonomie. Für Hilfsorganisation ist es zunehmend schwieriger, Spenden für langatmige Projekte zu sammeln, die keine kurzfristigen Erfolge vorweisen können. Humanitäre Arbeit, die nach Katastrophen das Elend bekämpft, kennt solche Probleme weitaus weniger. So gesehen kommt die Heiligsprechung von Mutter Teresa zu einem denkbar günstigen Zeitpunkt. Der Vatikan verherrlicht eine Frau, die helfen wollte ohne nach den Ursachen zu fragen.

Zumindest in Kolkata wirkt das Konzept: Die „Missionarinnen der Nächstenliebe“ , heute in 137 Ländern mit rund 4000 Nonnen vertreten, müssen inzwischen ein halbes Dutzend Unterkünfte anbieten, um Freiwillige aus aller Welt zu beherbergen, die ein paar Wochen im Sterbeheim oder anderen Einrichtungen des Ordens arbeiten wollen.

www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.mutter-teresa-nach-der-selig-kommt-die- heiligsprechung.343979e1-2d42-4166-be20-58c0deebdc95.html www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.vatikan-mutter-teresa-wird-auf-dem- petersplatz-in-rom-heiliggesprochen.6aab5e71-7e6c-45d4-a611- ...