„Mir ist die Distanz verloren gegangen“, sagt ein 37-jährige Gefängnismitarbeiter. Jetzt steht er in Heilbronn vor Gericht und muss wohl selbst in Haft.
Heilbronn - Das Geständnis ist ausführlich oder „vollumfänglich“, wie es vor Gericht in solchen Fällen heißt. Detailliert wiederholt die Verteidigerin das, was die Staatsanwältin gerade dem Angeklagten in ihrer Anklageschrift vorgehalten hat. Über zweieinhalb Jahre habe der 37-jährige Mann als Wachbeamter Handys und Lebensmittel wie Wurst, Süßigkeiten und Käse, später aber auch Wodka und Drogen im Auftrag von Häftlingen ins Heilbronner Gefängnis geschmuggelt. 23 Fälle listet die Staatsanwaltschaft auf, und jeden einzelnen davon bestätigt die Verteidigerin, nennt die Beteiligten und die Höhe der vereinbarten Belohnung. Mehr als 3000 Euro soll er mit seinen Kurierdiensten verdient haben. Schließlich erhält die Polizei Hinweise und ermittelt verdeckt. Am 12. Juli 2018 fliegt der Schmuggel auf. Der 37-Jährige wird bei Dienstantritt mit 379 Subutextabletten (gegen starke Schmerzen), 22 Gramm Haschisch und zwei Gramm Heroin erwischt.
Es beginnt mit einem Freundschaftsdienst
Acht Jahre hat der Angeklagte in der Heilbronner Justizvollzugsanstalt gearbeitet. Seit einem halben Jahr sitzt er selbst hinter Gittern – allerdings in einer bayerischen Einrichtung. „Mir ist die Distanz verloren gegangen“, versucht er nun seinen Fall zu erklären. Mit einem Freundschaftsdienst für einen einzelnen Insassen habe es angefangen. Dem habe er aus Mitleid ein paar Lebensmittel mitgebracht. Unter den Gefangenen spricht sich so etwas herum. Bald wird der nächste Wunsch an ihn herangetragen. Diesmal sollen es Handys sein. 100 Euro nimmt er pro Gerät, später beträgt der Satz 150 Euro. Als Drogen ins Spiel kommen, steigt der Preis weiter.
Das Geld kann er gut gebrauchen. Seine Frau hat sich von ihm getrennt. Die Scheidung ist teuer, die Raten für das Haus drücken. Zudem fühlt er sich in der Hand der Häftlinge. Wenn er nicht spure, könnten sie ihn anzeigen, vermutet er. Die Ware geht ihm per Post zu, wird in seinem Briefkasten deponiert oder bei Treffpunkten vor Schnellrestaurants, Discountern, Discos und dem Lauffener Friedhof übergeben. „Ich hätte gleich zur Anstaltsleitung gehen sollen. Aber es gab kein vertrauensvolles Verhältnis“, sagt er. Jetzt steht der 37-Jährige vor einem Scherbenhaufen. „Ich habe alles verloren: mein Haus, meine Freunde, meine Arbeit.“ Gegenwärtig erhalte er noch gekürzte Bezüge. Doch seine Entlassung aus dem Beamtenverhältnis sei wohl nur noch Formsache.
„Die ganze Justiz in den Dreck gezogen“
Der Fall hat die Heilbronner Haftanstalt ins Gerede gebracht. Und nicht nur sie. „Die komplette Justiz wurde durch mein Verhalten in den Dreck gezogen“, räumt der ehemalige Wachbeamte ein. Für die Heilbronner Staatsanwaltschaft hat sich das Ermittlungsverfahren längst zu einem Großkomplex ausgewachsen. Im Zusammenhang mit dem „Knastbetrug“, wie es behördenintern heißt, werde mittlerweile gegen 90 Personen ermittelt, sagt die Sprecherin Bettina Jörg. Nächste Woche beginnt der Prozess gegen fünf damalige Gefängnisinsassen und deren Freunde, denen der Angeklagte als Kurier diente. Sie hatten zunächst versucht, Drogen über die Gefängnismauer zu werfen. In den meisten Fällen erreichte die Ware aber nicht die Adressaten. Mit Hilfe des Angeklagten lief ihr Geschäft besser. Mancher baute sogar vor. Weil er damit rechnete, bald wieder in Haft zu müssen, deponierte er ein Drogenpaket im Vorhinein bei dem Angeklagten.
Mit seinem Distanzproblem stand der 37-Jährige in der Belegschaft offenbar nicht allein. Gegen acht weitere Wachbeamte leitete die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren ein. Gegen drei Männer im Alter von 27, 40 und 57 Jahren seien Strafbefehle in jeweils vierstelliger Höhe wegen Verstößen gegen das Betäubungsmittel- beziehungsweise Waffengesetz erlassen worden, erklärte Jörg. Bestechlichkeit konnte hier nicht nachgewiesen werden. Ein Kollege warte noch auf den Beginn seines Strafverfahrens. Gegen einen 52-jährigen Beamten erging ein Bußgeldbescheid über 1500 Euro. Er arbeitet mittlerweile wieder. Ein weiteres Verfahren sei noch anhängig. Gegen einen Bediensteten wurden die Ermittlungen eingestellt. Es habe sich um eine Verwechslung gehandelt. Hinweise auf ein Zusammenwirken der Beschuldigten gibt es offenbar nicht.
Taschenkontrollen bei den Mitarbeitern
Auch beim baden-württembergischen Justizministerium hat der Fall umfangreiche Aktivitäten entfacht. So wurde der Anstaltsdirektor versetzt. Eine Arbeitsgruppe befasse sich mit der Sicherheitsstruktur und den Verfahrensabläufen im Heilbronner Gefängnis. Zudem sei ein landesweit anwendbares Konzept entwickelt worden, um die Unterkunftsgebäude gegen solche Missstände zusätzlich in baulicher Hinsicht zu sichern. Unter anderem würden die Haftraumfenster schrittweise umgebaut und geeignete Detektionstechnik angeschafft, sagte ein Ministeriumssprecher.
Durch verstärkte Kontrollen der Hafträume unter anderem mit Drogenspürhunden habe man versucht, das Problem in den Griff zu bekommen. Zuletzt habe es am 15. Januar eine Durchsuchung gegeben. Diese Maßnahmen würden fortgesetzt. Vorübergehend hatte es im Sommer auch unangekündigte Taschenkontrollen bei den Bediensteten gegeben. Unerlaubte Gegenstände seien nicht sichergestellt worden.