Der Rideau-Kanal ist Weltkulturerbe und bietet eine attraktive Hausboot-Route durch das südliche Ontario. Im Wasser begegnet man Natur – und Technik.
Stuttgart - Der Feind kann kommen. Als Sergeant Major Napoleon Bergeron zackig über den Hof von Fort Henry marschiert, ist er sich sicher: Die US-Amerikaner werden sich blutige Köpfe holen. Im Stechschritt marschieren die Soldaten. Eine Gruppe Artilleristen lädt eine Kanone auf dem Wall. Krachend jagt ihr Schuss über den Hafen von Kingston hinaus.
Wer durch den Süden der kanadischen Provinz Ontario, die an den US-Bundesstaat New York grenzt, reist, hört immer wieder ausgesprochen unfreundliche Bemerkungen speziell über den gegenwärtigen US-Präsidenten. Aber im Kriegszustand sind die beiden Länder nicht. Die Kanonaden vom Fort Henry, das nie einen US-Angriff abwehren musste, gehören zur in Kanada so beliebten „Living History“: Schauspielende Akteure beamen den Besucher in die Vergangenheit.
Die war tatsächlich blutig: Von 1812 bis 1814 versuchten die US-Amerikaner, die englische Provinz Kanada zu erobern. Vergeblich, aber sie förderten damit ein kanadisches Nationalgefühl. Und sogar letztlich ein Rückgrat des Ontario-Tourismus: den Rideau-Kanal, einen 202-Kilometer-Wasserweg zwischen Kingston und Kanadas Hauptstadt Ottawa.
Ungefähr in seiner Mitte liegt die Kleinstadt Smith Falls. Am Kanalufer glänzen die Stegbretter einer neuen Marina. Eine ganze Flotte weißer Kleinjachten dümpelt im Wasser. Gebaut von einer polnischen Werft, geordert vom britischen Hausbootvermieter Le Boat, der seit Mai 2018 auch Kanada in sein Geschäft aufgenommen hat.
Der Rideau-Kanal hat Smith Falls große Unternehmen gebracht. Aber 2000 Arbeitsplätze, klagt Bürgermeister Shawn Pankow, sind in den letzten Jahren weggebrochen. Jetzt soll der Kanal die Wirtschaft wieder pushen.
Hoffen auf den Tourismus
Die Stadt und die Region haben Le Boat deshalb mit Subventionen in Millionenhöhe umworben. Das war nicht unumstritten, aber Shawn Pankow erwartet reichlichen finanziellen Rückgewinn durch Besucher aus aller Welt: „Wir können an den globalen Tourismus herankommen wie nie zuvor.“
„Tourismus ist die neue Ökonomie“, sagt auch Sandy Crothers, der Leiter der Bootsstation. Er weist die Bootsmieter ein. Zeigt den Zugriff zum wuchtigen Dieselmotor, erklärt die Gasgriffe für den Herd und die Schalter für all die Elektronik. Und übt mit den Kunden die ersten Runden im Hafenbecken. Kurve, wenden, einparken am Kai. Die Boote können bis zu acht Personen unterbringen und haben einen flachen Kiel, sind also anfällig für Wind und Strömung. Man muss am Steuer konzentriert agieren und ein Gefühl für die Manöver bekommen, sonst steht der Kahn schon mal quer.
Sandy Crothers Büro ist im ehemaligen Haus des Schleusenwärters. Frisch gestrichen und renoviert von Parks Canada, der Organisation für alle kanadischen Nationalparks. Und für historische Stätten wie eben den Rideau-Kanal. Der ist mittlerweile sogar Weltkulturerbe. Ab 1826 gebaut, funktionieren der Kanal und seine 47 Schleusen aus dem 19. Jahrhundert immer noch.
Der Kanal ist ein Kind des Krieges 1812/1814: Weil der Wasserweg von Kingston nach Montreal über den Sankt-Lorenz-Strom führt und dieser Grenzfluss leicht von den USA blockiert werden konnte, wurde der Rideau-Kanal, der zur Grenze Distanz hielt, durch die Wildnis gesprengt und gepickelt. Der Preis war nicht nur finanziell hoch: Rund 1000 Arbeiter starben bei Dammbrüchen und Felsstürzen, an Malaria und Cholera.
Handarbeit an den Schleusen
Aber 1832 erreichte der leitende Ingenieur John By den Anschluss ans bisherige Wassersystem und ließ dort, wo gewaltige Wasserfälle dem Rideau River seinen Namen Vorhang-Fluss gegeben hatten, eine spektakuläre Treppe aus acht Schleusen und einige Holzhütten bauen: Bytown, erst ein Nest voller schwerer Jungs und leichter Mädchen – heute Ottawa, längst eine Millionenstadt.
Die Mitarbeiter von Parks Canada mit ihren grünen Hemden sehen die Bootsfahrer auf ihrer gesamten Tour. Denn wie zu den Zeiten des John By werden fast alle Schleusen noch von Hand bedient. An großen Eisenrädern kurbeln die Männer, bis sich die hölzernen Schleusentore öffnen oder eine Brücke zur Seite schwenkt. Und die Boote in eine abwechslungsreiche Wasserlandschaft wechseln.
Sie müssen sauber Kurs halten auf schmalen Kanälen, gleiten durch Sumpflandschaften, wo sich auf umgestürzten Baumstämmen Schildkröten sonnen. Und nach der nächsten Schleuse öffnen sich weite Seen mit Kalksteinufern und voller Inseln, manche gerade mal ein Felsblock mit zwei Bäumen darauf. Wenn sich dann Minifjorde ins Ufer fressen, ist unter einem hohen Himmel das Skandinaviengefühl komplett – vor allem, wenn man dann noch in ein Kajak umsteigt.
Über Nacht werden die Boote vertäut. Wie an der Upper Beveridges Lockstation am Tay-Kanal, einem Seitenarm des Rideau-Systems. Park Canada hat dort eine Grillhütte und einen Feuerplatz gebaut. Nachts knistern die Scheite, der Vollmond gießt seine Lichtmagie über die Szenerie. In den Wäldern heult ein Rudel Wölfe? Kojoten, erklärt der Schleusen-Ranger am nächsten Morgen: „Sie jagen Waschbären. Wenn die auf einen Baum flüchten, belagern die Kojoten den Stamm und machen dort Radau, bis ihre Beute entkräftet vom Baum fällt.“
Manchmal spricht man Schwäbisch
Dann rauscht das Wasser in die Schleusenkammer, das Boot nimmt wieder Kurs auf. Dorthin, wo einst die Veteranen der Krone ihr Grundstück in der Wildnis bekamen und nun hübsche Dörfer und Städtchen mit kolonial-viktorianischem Erbe ihre Rolle in der Zukunft suchen. Merrickville zum Beispiel, wo Dave Nash Bürgermeister ist. Ein Mann mit Hörgerät und grauen Haaren. Aber sobald er Zeit hat, sattelt er seine Harley. Denn das Dorf ist das Refugium vieler Ex-Hippies, und ihre Kunsthandwerk-Geschäfte säumen die Hauptstraße.
Perth, wo die Offiziere der Queen ihre Pension in repräsentativen Steinhäusern anlegten, setzt auf den Genuss. Wie Hanna Murphy und ihre junge Truppe von den Top Shelf Distillers. Sie haben sich eine schwäbische Brennerei-Ausstattung geleistet und füllen ihre Brände ab, etwa Whiskey mit Ahornsirup.
So machen die Kapitäne auf Zeit Beute auf den Landgängen. Plaudern mit den so bemerkenswert freundlichen und entspannten Kanadiern, die manchmal sogar (Einwanderungsland!) ins Schwäbische verfallen.