Überfüllte Wartezimmer und überforderte Mitarbeiter: Das könnte bald in vielen Stuttgarter Hausarzt-Praxen Foto: dpa

In fünf Jahren geht ein Drittel aller Hausärzte in Stuttgart in den Ruhestand. Experten warnen vor einem bevorstehenden Mangel in der hausärztlichen Versorgung. Die Gesundheitsbürgermeisterin Isabel Fezer spricht über mögliche Lösungsansätze der Stadt.

Stuttgart - Frau Fezer, müssen Sie bei Ihrem Hausarzt lange im Wartezimmer sitzen?
Nein. Ich habe da wohl Glück.
Vermutlich ist der Arzt Ihres Vertrauens auch um die Ecke.
Auch da bin ich in einer glücklichen Lage.
Ihre guten Erfahrungen dürften sich mit denen vieler Stuttgarter decken. Aber in fünf Jahren droht eine extreme Verschlechterung. Teilen Sie die jüngsten Sorgen der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) und der Krankenkassen?
Ja, natürlich. Aber wir haben momentan einen Versorgungsgrad von 104 Prozent bei den Hausärzten. Das ist ein guter Wert, der belegt, dass die Bürger stadtweit gesehen gut versorgt sind. Das schließt allerdings nicht aus, dass in einzelnen Bezirken weitere Wege in Kauf genommen werden müssen.
Doch was passiert, wenn in fünf Jahren ein Drittel der Hausärzte in den Ruhestand tritt?
Klar, da findet eine Veränderung statt. Aber das bedeutet nicht automatisch, dass diese Hausarzt-Sitze dann verwaist sind.
Einspruch. Schon heute lassen sich für solche Praxen keine Nachfolger finden.
Das trifft für manche Praxen zu. Trotzdem sind wir in den Städten in einer deutlich besseren Situation als viele Kommunen auf dem Land.
Ist es also ein Jammern auf hohem Niveau, wenn die Experten Alarm schlagen?
Da wäre ich vorsichtig. Es ist kein Jammern auf hohem Niveau. Aber wir können feststellen, dass wir heute besser aufgestellt sind als andere. Für die Zukunft sehe ich allerdings schon einen Bedarf. Wir werden ein Defizit haben und müssen schauen, wie wir damit umgehen.
Haben Sie Antworten?
Ja, ich werde Vorschläge machen. Allerdings sind die Möglichkeiten einer Kommune sehr begrenzt. Es stehen vorrangig andere Akteure in der Verantwortung.
Wer ist in der Pflicht?
Mit Blick auf den Werdegang von Ärzten und Ärztinnen sehe ich zunächst Verantwortung beim Land. Wir haben zum Beispiel zu wenige Studienplätze.
Heißt das auch: Kommunen müssen sich bei Bund und Land lauter zur Wehr setzen?
Ganz genau. Ich wünsche mir ganz konkret vom Land, dass das zum Jahresende auslaufende Förderprogramm der Hausarztausbildung verlängert wird. Unseren Beitrag zur Hausärzteausbildung leisten wir mit einem intensiven Engagement des Klinikums Stuttgart.
Wie?
Hier finden die künftigen Allgemeinmediziner besonders gute Ausbildungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten. Da investieren wir als Stadt bewusst sehr viel.
Die Probleme für junge Mediziner beginnen oft erst nach der Ausbildung. Viele schrecken vor den Investitionen einer Selbstständigkeit zurück. Können Sie hier Anreize schaffen?
Wir müssen uns als Stadt attraktiver machen. Nicht nur für junge Ärztinnen und Ärzte. Da sind die bekannten Punkte: Kinderbetreuung, Infrastruktur, Verkehr, bezahlbarer Wohnraum. Das ist unser Dauerauftrag.
Schon jetzt gibt es in Stuttgart Brennpunkte der Mangelversorgung. Zum Beispiel in Stammheim, wo für 12 000 Einwohner drei Hausärzte da sind. Wie bekommt man dieses Problem in den Griff?
Die Rahmenbedingungen in Stammheim sind eigentlich gut. Wir sollten hier gemeinsam mit der Kassenärztlichen Vereinigung, die ja den Versorgungsauftrag hat, nach einer Lösung suchen.
Die KV meint dazu: Wir können keine Ärzte zwingen, sich an einem bestimmten Ort niederzulassen. Heißt das, wir gehen sehenden Auges den Problemen entgegen?
Natürlich nicht. Ich sehe zum einen in der Bildung von Gemeinschaftspraxen eine Chance für die Zukunft. Da können sich Ärzte zusammenschließen und selbst die Initiative ergreifen.
Was bringt das?
Solche Unternehmensmodelle bieten die Möglichkeit, Teilzeit oder flexible Arbeitszeiten zu vereinbaren. Das macht den Beruf gerade für junge Frauen attraktiver, die immerhin die Mehrheit der Medizinstudenten stellen. Eine weitere Möglichkeit ist die Gründung von Medizinischen Versorgungszentren, abgekürzt MVZ. Wenn es der KV in einzelnen Stadtteilen nicht gelingen sollte, den Versorgungsauftrag mit niedergelassenen Ärzten sicherzustellen, hat die Stadt als Krankenhausträger Handlungsmöglichkeiten. Das Klinikum Stuttgart wäre bereit, in Abstimmung mit der KV bei Bedarf Versorgungszentren zu gründen. Und damit würden wir nicht nur die Hausarztversorgung verbessern, sondern auch die Ausbildungsmöglichkeiten der künftigen Allgemeinmediziner. Das käme dann nicht nur Stuttgart, sondern dem ganzen Land zugute.
Können Sie sich vorstellen, kommunale Arztpraxen zu gründen und als Stadt Ärzte anzustellen?
Der Bundestag berät derzeit den Entwurf des Versorgungsstärkungsgesetzes. Eine der geplanten gesetzlichen Änderungen sieht vor, dass künftig Kommunen die Möglichkeit haben werden, Medizinische Versorgungszentren als städtische Betriebe zu gründen. Damit will der Gesetzgeber vor allem für den ländlichen Raum die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die ärztlichen Versorgungsstrukturen verbessert werden können.
Was heißt das für Stuttgart?
In einer Großstadt wie Stuttgart kann das schon heute von den zahlreichen Krankenhausträgern geleistet werden. Das städtische Klinikum hat dies mit angestellten Ärzten des Klinikums vor. Die Stadtverwaltung muss parallel dazu keine Versorgungsstrukturen aufbauen.
Das nächste Versorgungszentrum dürfte dann aber auch nicht fußläufig zu erreichen sein.
Unterm Strich muss der Patient damit rechnen, längere Wege zu gehen. Weder Bund, Land noch Kommune können Ärzte backen. Aber letztlich ist das eine gesellschaftliche Frage. Wenn es die Gesellschaft als wichtig empfindet, den Arzt um die Ecke zu haben, dann kann man an Schrauben drehen. Aber das hat seinen Preis.
Fassen wir zusammen: Der Patient der Zukunft muss also längere Wege und Wartezeiten in Kauf nehmen.
Es können weitere Wege erforderlich werden. Aber der Patient muss sich auch Gedanken machen, ob er mit jedem Schnupfen zum Arzt muss. Wir haben in dieser Hinsicht ein enorm hohes Anspruchsdenken. Würde hier eine gewisse Anpassung stattfinden, gäbe es auch eine Entlastung des Gesundheitssystems. Vielleicht sind wir, was das Angebot angeht, auch ein bisschen verwöhnt. Die Qualität muss freilich stimmen.
Hätten Sie einen Plan B, wenn es in ganz Stuttgart Stammheimer Verhältnisse gäbe?
Plan B wäre ein weiterer Ausbau der medizinischen Versorgungszentren. Aber ich muss festhalten: Kommunen haben im Sinne der Daseinsfürsorge eine Verantwortung, und die wollen wir auch wahrnehmen. Aber bei dem Versorgungsauftrag der Kassenärztlichen Vereinigung durch niedergelassene Ärzte haben wir nur flankierende Funktionen.