Cihat Sen betreibt seine Praxis in Bad Cannstatt bereits seit 1986 Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

In fünf Jahren geht ein Drittel aller Hausärzte in Stuttgart in den Ruhestand. Experten warnen vor einem bevorstehenden Mangel in der hausärztlichen Versorgung. In vielen Branchen werden gezielt Fachkräfte aus anderen Ländern angeworben. Auch die Zahl der ausländischen Ärzte steigt. Doch eine Patentlösung sehen Experten darin nicht.

Stuttgart - Das Wartezimmer ist brechend voll. Die Praxis in der Cannstatter Seelbergstraße erfreut sich großer Beliebtheit. Auffällig ist allerdings der Sprachgebrauch: Es geht munter zwischen Deutsch und Türkisch hin und her. Ganz selbstverständlich.

„80 Prozent meiner Patienten sind türkischer Abstammung“, sagt Cihat Sen. 1967 kam der Hausarzt und Internist zum Medizinstudium nach Deutschland. Seit 29 Jahren betreibt er seine Praxis in Stuttgart. Er hat wissenschaftliche Lehrbücher veröffentlicht, große Erfahrung, mehrere Facharzttitel und arbeitet auch als Privatdozent im Ausland. Für einen Hausarzt ist er fast schon überqualifiziert. Und doch sagt er: „Deutsche Patienten tun sich nach wie vor schwer, wenn sie meinen Namen auf dem Schild lesen.“

Das Vertrauen zu ausländischen Ärzten ist offenbar immer noch begrenzt. Wenn Sen Bereitschaftsdienst hat und deutsche Patienten in diesem Rahmen zu ihm kommen, seien sie oft positiv überrascht und blieben häufig auch danach bei ihm, erzählt der Mediziner. Er glaubt deshalb, dass der Hausärztemangel eher nicht durch das Anwerben von Medizinern im Ausland lösbar ist: „Gerade in der Stadt könnte das zu einer Bauchlandung führen.“

Tatsächlich gibt es in Stuttgart nur wenige Hausärzte und Internisten wie Sen. „Wir haben einige Kollegen mit türkischem Hintergrund, darüber hinaus finden sich aber nur wenige“, sagt Markus Klett. Der Vorsitzende der Stuttgarter Ärzteschaft weiß, dass gerade der hausärztliche Bereich schwierig ist: „Man muss sehr viel abdecken, viel reden und die Sprache gut beherrschen.“ Das ist in Spezialdisziplinen einfacher, deshalb arbeiten die meisten Ärzte ausländischer Abstammung in Krankenhäusern. Klett glaubt, dass „da mehr kommen muss und wird“, und hofft, dass einige Mediziner, die aus Syrien fliehen mussten, sich in Stuttgart niederlassen. Er warnt aber vor zu großen Erwartungen: „Wir haben da bei einigen schon ein hohes Anspruchsdenken erlebt. Das war eine durchaus überraschende Erfahrung.“

Die Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg sieht das Problem ähnlich. „Wir haben eine ganze Reihe von Medizinern, die ihre Ausbildung im Ausland absolviert haben. Aber systematische Anwerbeversuche haben wir nicht unternommen“, so Sprecher Kai Sonntag. Lediglich im Ärzteblatt der Schweiz habe man einmal eine Anzeige geschaltet, allerdings eher mit symbolischem Charakter: „Da wollten wir ein Zeichen setzen, weil die Schweiz weniger Ärzte ausbildet, als sie benötigt, und deshalb in Deutschland anwirbt.“ Generell glaube man, „dass das systematische Anwerben von Hausärzten aus dem Ausland nicht die Lösung sein kann“. Man müsse dabei das Sprachproblem überwinden, zudem sei es nicht angemessen, die Situation in Ländern wie der Ukraine, Bulgarien oder Rumänien auszunutzen: „Die sind dringend selbst auf ihre Ärzte angewiesen.“ Stattdessen müsse man dafür sorgen, dass wieder mehr deutsche Mediziner Hausarzt werden wollen.

Das sieht auch der Praktiker so. „Ausländische Ärzte werden dort oft gebraucht“, sagt Doktor Sen. Zuletzt seien jedes Jahr zwischen 2300 und 3000 deutsche Ärzte in andere Länder abgewandert. Das müsse man eindämmen. „Das Gesundheitssystem muss sich verbessern. Wir brauchen mehr Medizinstudenten und Ärzte hier. Und wir dürfen den Hausarztberuf nicht durch Bürokratie vernichten“, so der Mediziner. Er zeigt auf seinen Schreibtisch und sagt kopfschüttelnd: „Ich bekomme jeden Tag 15 Kilo Post. Das würde auch jeden ausländischen Kollegen abschrecken.“

Doch Sen sieht noch ein anderes Problem. „Wenn Ärzte aus dem Ausland kommen, muss sichergestellt sein, dass die Qualität stimmt und deren Ausbildung vergleichbar ist.“ Man dürfe nicht jeden holen, um Lücken zu schließen. „Ich habe damals jahrelang kämpfen müssen, um in Deutschland zugelassen zu werden“, erinnert er sich. Für die Prüfung ist das Regierungspräsidium Stuttgart zuständig. Es schaut, ob ein Arzt eine der deutschen Ausbildung gleichwertige Qualifikation mitbringt. Ist das nicht der Fall, folgt eine Kenntnisprüfung. Zudem müssen Sprachkenntnisse und Straffreiheit nachgewiesen werden.

Auch Cihat Sen ist mittlerweile Mitte 60. „Ich suche bereits nach einem Nachfolger“, sagt er. Einfach dürfte das nicht werden.