Harry Raymon bei der Ausstellungseröffnung „Lesbisch - Jüdisch - Schwul“ 2014 im Zentrum Weissenburg in Stuttgart Foto: /Michael Steinert

Harry Raymon, der 95-jährige Tänzer und Schauspieler, Drehbuchautor und Regisseur, kann auf Erfahrungen zurückblicken, die für mehrere Leben reichen. Der Gefährte von Marlon Brando gewesen zu sein, ist nur eine von vielen. An diesem Samstag stellt er seine Erinnerungen im Erlkönig vor.

Stuttgart - Männer, die sich in den jungen, vor Sex-Appeal strotzenden Marlon Brando verliebten, hat es vermutlich in Massen gegeben. Aber nur einer von ihnen hat mit dem Shootingstar des Broadways, der in „Endstation Sehnsucht“ als Stanley Kowalski seinen sensationellen Durchbruch feierte, rauschende Tage in Paris verbracht. Dieser Mann ging damals, 1949, mit dem Schönling flanieren, er frühstückte mit ihm in Cafés und badete in der Seine. Und er tauschte mit ihm ein Hemd aus, das er trug, bis es in Fetzen hing. Dass es aber mehr war als nur Bewunderung, die ihn zum Adonis aus der Neuen Welt hinzog, konnte sich der im Glück Taumelnde nicht eingestehen. An diesem Samstag stellt Harry Raymon seine Lebenserinnerungen in der queeren Stuttgarter Buchhandlung Erlkönig vor.

Harry who? Man hat ihn vergessen, den 95-jährigen Tänzer und Schauspieler, Drehbuchautor und Regisseur, der in München lebt und auf Erfahrungen zurückblickt, die für mehrere Leben reichen. Der Gefährte von Marlon Brando gewesen zu sein, ist nur eine von vielen. Als weniger schön erwiesen sich andere Ereignisse und Vorfälle.

Stuttgart war damals ganz anders

Geboren wurde Harry Raymon 1926 als Harry Heymann, Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie in Kirchberg im Hunsrück, die 1936 vor den Nazis in die USA fliehen musste. Unmittelbar nach Kriegsende kehrte er als Soldat ins zerstörte Deutschland zurück, um in Oberammergau bei der Entnazifizierung zu helfen. Und in den Fünfzigern, nach der Zeit in Paris, wo er Pantomime und Tanz studierte, wurde das Gefühl, dass er Männer liebte, unabweisbar. Schwul, Jude, Besatzer: im Land der Täter ein dreifaches Stigma.

„Wissen Sie“, sagt Harry Raymon am Telefon, „diese Ausgrenzung habe ich so offen gar nicht wahrgenommen. Die Themen waren mit einem Tabu belegt, niemand hat darüber geredet, keiner hat jemals nach meiner Herkunft gefragt. Das hat mich gewundert“ – vor allem, als er von 1950 bis 1955 in Stuttgart wohnte. Die Musikhochschule war die einzige ihrer Art in Europa, die am Stipendienprogramm der US Army teilnehmen durfte. Mr. Raymon studierte Gesang und gründete das Pantomimentheater Die Gaukler, deren Spielort das frisch gegründete, 1995 wieder aufgelöste Amerika-Haus war. Doch selbst innerhalb der sehr erfolgreichen, im Fernsehen auftretenden Künstlertruppe wurde die Vergangenheit ausgiebig beschwiegen. Seine Heimat wurde sie trotzdem, sonst hätte er es hier nicht ausgehalten: „Stuttgart ist damals ganz anders gewesen als heute: Die Leute waren abweisend, spießig, furchtbar.“

Und wieder hatte man ihn vergessen

Das hat sich doch geändert. Heute freut sich Raymon über den queeren Erlkönig, wo er sein Buch „Anders von Anfang an“ präsentieren wird – anders wie beispielsweise auch James Baldwin, Thomas Mann, Marcel Proust, Patricia Highsmith oder Virginia Woolf, die in der gut sortierten Buchhandlung im Regal stehen. Diese Weltautoren waren so queer wie Horst Buchholz, der sich erst kurz vor seinem Tod zu seiner Bisexualität bekannte. Auch mit ihm hatte Raymon zu tun. In der Verfilmung von „Endstation Sehnsucht“ spielte er 1958 an dessen Seite, was ihm den Durchbruch als Schauspieler hätte bringen müssen. Allein, die großen Angebote blieben aus. Wieder hatte man den aus der Emigration heimgekehrten Raymon vergessen: ein Leben wie ein Jahrhundert.

Live in der Stadt

Termin
 Am Samstag, 2. Oktober, 19 Uhr, liest der Autor in der Buchhandlung Erlkönig. Anmeldung unter 07 11 / 63 91 39.

Buch
 Harry Raymon: Anders von Anfang an. Nachdenken über ein langes Leben. Stroux Edition, München. 284 Seiten, 22 Euro.