Unaufgeregt, witzig und geistreich – Harald Martenstein (links) hat die StZ-Leser im Gepräch mit Kai Holoch begeistert. Foto: Horst Rudel

Der Zeit-Kolumnist überzeugt die StZ-Leser bei der 23. Auflage der Reihe „Stuttgarter Zeitung im Gespräch in Esslingen“ von Kopf bis Fuß.

Esslingen - Wenn sich Harald Martenstein selbst beim Wort nehmen würde, dann müsste er sich jetzt ernsthaft überlegen, ob er nicht besser die Feder aus der Hand legt. „Wenn sich keiner mehr darüber aufregt, dann höre ich auf“, hat der Kolumnist des Wochenmagazins „Die Zeit“ am Montag auf die Frage geantwortet, wie er es mit der Kritik an seinen Beiträgen halte. Nach den launigen zwei Stunden, in denen sich Martenstein zuvor in der Reihe „Stuttgarter Zeitung im Gespräch in Esslingen“ den Fragen des Redaktionsleiters Kai Holoch gestellt hatte, hat sich keiner der rund 90 Gäste aufgeregt.

Unaufgeregt aufgeräumt – das trifft die Stimmung in den Redaktionsräumen an diesem Abend. Kein Wunder, kennen sich Holoch und Martenstein doch noch aus der Zeit, in der letzterer sich seine ersten journalistischen Sporen im lokalen Kulturteil der Stuttgarter Zeitung verdient hat. „Damals habe ich auch über das Esslinger Kulturleben berichten müssen“, sagt er mit Betonung auf „müssen“.

Der Journalist und die Hausbesetzer

Den Steigbügel zum Einstieg in den Brotberuf haben ihm in den protestbewegten 1980er-Jahren die Hausbesetzer in Freiburg gehalten. „In der Szene war damals ganz schön was los. Das hat jede Woche eine tolle Geschichte hergegeben. Und die habe ich als freier Journalist dann bundesweit erfolgreich verkauft“, erinnert er sich. In der Folge konnte er sich das Volontariat bei der Deutschen Presseagentur, der Badischen Zeitung und der Stuttgarter Zeitung aussuchen – mit dem bekannten Ende, das zum Anfang wurde.

Die Ausbildung im Stuttgarter Pressehaus sollte zum Sprungbrett einer steilen Karriere werden. Es folgten Gastspiele beim Tagesspiegel in Berlin („Damals war das ein unheimlicher Rückschritt im Vergleich zu Stuttgart, wie eine Zeitreise ins spaßbefreite Mittelalter“) und bei der Abendzeitung in München ( „Als Feuilletonchef einer Boulevardzeitung war ich eine Fehlbesetzung“), bevor der gebürtige Mainzer bei dem Wochenmagazin „Die Zeit“ seine journalistische Heimat fand – ungeachtet der Tatsache, dass er nach seinem Münchner Gastspiel wieder als Redakteur beim Berliner Tagesspiegel angeheuert hat und dort noch arbeitet.

„Kolumnen sind wie Kartoffeln oder Erdbeeren“

Über die Grenzen der Bundeshauptstadt hinaus bekannt gemacht haben ihn seine Beiträge, die er seit 16 Jahren wöchentlich für das Magazin der „Zeit“ schreibt. Kolumnen – mal ganz einfach über das eigene Erleben, mal mit einem darüber hinaus reichenden gesellschaftlichen Anspruch. Mal witzig, häufiger ernst. Meist gelungen, ganz selten eher nicht. Auch dazu steht er, oder besser: Er steht drüber. Die Bandweite liege in der Natur der Kolumne, sagt Harald Martenstein. „Kolumnen sind ein Naturprodukt, wie etwa Kartoffeln oder Erdbeeren.“ Die seien auch nicht immer gleich groß, und sie schmeckten auch nicht immer gleich gut und nicht immer jedem. Entscheidend sei es für den Schreiber einer Kolumne, die Qualität auf lange Sicht zu halten. „Der einzige Fehler, den ein Kolumnist machen kann, ist, den Text gar nicht zu liefern“, sagt Martenstein. Einen schlechten Text könne man immer noch verbessern, keinen Text halt nicht.

Den Anspruch, mit seinen Beiträgen die Gesellschaft zu verändern, habe er nicht. „Ich setze mich an den Computer und schreibe in erster Linie, was ich denke. Dabei muss ich die innere Zensur ausschalten und sogar das Wissen, dass meine Texte später auch von den Leuten gelesen werden.“ Wenn er das sagt, dann verbreitet er den Eindruck, als wolle er nur spielen. Macht er ja auch: mit Worten, wie kaum ein anderer deutschsprachiger Kolumnist der Gegenwart.

Der Wortspieler

Trotzdem leidet Martenstein, der Wortspieler, nicht unter Beißhemmungen. „Es gehört zum Berufsrisiko, dass man nicht schreiben kann, ohne irgendwann irgendjemanden zu verletzen“, sagt er. In der Genderdiskussion nehme er sogar bewusst in Kauf, dass er zu einer Art Feindbild geworden sei. „Die Genderforschung ist eine ideologisch geprägte Pseudowissenschaft – dazu stehe ich“, bekräftigt er. Das Wesen von Forschung sei, dass sie ergebnisoffen sein müsse und sich nicht, wie in diesem Fall, von vornherein festlegen dürfe.

Weitaus offener und souveräner würde beispielsweise die Kirche mit seinen kritischen Texten umgehen. „Nach einer Kolumne, in der ich ketzerisch über die unsinnige Verzicht-Vorschläge zur Fastenzeit geschrieben habe, bin ich eingeladen worden zu predigen“, sagt er. „Die waren ganz froh über meinen Beitrag. Ich hatte sogar den Eindruck, die freuen sich, dass sich endlich jemand für sie interessiert.“

Einmal, so widerspricht er sich selbst dann doch in aller Bescheidenheit, habe er Einfluss auf die Gesellschaft genommen. Das war, als er mit einem sechs Jahre alten Buben eine Vorstellung von „Keinohrhasen“ im Kino gesehen habe und anschließend ob der vielen schlüpfrigen Szenen in Erklärungsnot gekommen war. Seine bissige Kolumne über den Kinobesuch habe damals bewirkt, dass die Altersbeschränkung für den Film von sechs auf zwölf Jahre hochgestuft wurde.

Von Kopf bis Fuß überzeugt

Es war eine Premiere in der Esslinger Redaktion: Zum ersten Mal in 23 Auflagen von „Stuttgarter Zeitung im Gespräch in Esslingen“ hat ein Gast auf dem Podium das gereichte Wasser abgelehnt und nach einem Glas Wein verlangt. Nicht nur deshalb hatten die Zuhörer den Eindruck, mit Harald Martenstein gemeinsam an einem gemütlichen Wirtshaustisch zu sitzen.

Rudi Panni
aus Schorndorf hat sich nach der Gesprächsrunde von seinem bisher gepflegten Vorurteil verabschieden müssen. „Ich lese die Beiträge von Harald Martenstein immer zuerst, wenn die neue ‚Zeit‘ rauskommt. Ich finde sie toll, aber manchmal dachte ich schon, so ein selbstverliebter Gockel. Das nehme ich hiermit zurück“, sagt er. Martenstein habe einen feinen Humor, der nie zynisch rübergekommen sei. „Manche Sachen nicht so verbissen zu sehen täte uns auch in der Politik manchmal ganz gut“, sagt Rudi Panni.

Auch Dagmar Grabner
aus Esslingen-Oberesslingen ist eine regelmäßige Leserin des Wochenmagazins. „Ich war überrascht, dass er nicht nur so gut und unterhaltsam schreibt, sondern auch so mitreißend vor einem großen Publikum erzählen kann“, sagt sie. Besonders gefallen habe ihr, dass auch der private Mensch hinter dem Journalisten zum Vorschein gekommen sei. Aus seinen Antworten habe sehr viel gesunder Menschenverstand gesprochen.

Gerlinde Maier-Lamparter
aus Wendlingen hat vor allem das hautnahe Erleben genossen. „Er ist noch viel witziger und geistreicher, als ich es mir vorgestellt hatte“, sagt sie. Das Gespräch mit Kai Holoch habe beinahe den Eindruck vermittelt, als sei man mit Harald Martenstein gemeinsam an einem Tisch gesessen. Beinahe, denn sonst wäre Gerlinde Maier-Lamparter der Blick auf das extravagante Schuhwerk des Redaktionsgastes verwehrt geblieben. „Schlangenleder-Imitat aus Fernost, gekauft in Berlin“, sollte der Autor später in kleiner Runde das Rätsel um die extravagante Fußbekleidung lösen.

Tolle Schuhe, gute Fragen und kluge Antworten – der Abend habe unterm Strich ein rundes Bild von der Person Harald Martenstein gegeben. „Ich glaube, er hat sich in der Redaktion sehr wohlgefühlt – und ich mich auch“, so lautete das ganz persönliche Fazit der StZ-Leserin aus Wendlingen. Die Serie „Stuttgarter Zeitung im Gespräch in Esslingen“ empfinde sie als einen echten Mehrwert, zusätzlich zum gewohnten Zeitungsabonnement.