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Hüte und Pferde: Höchste Zeit, einen Blick auf die schrulligen Traditionen zu werfen.

Ascot - Ascot ist die Krönung des englischen Sommers, der einzige Ort der Welt, an dem man einen Obstkorb auf dem Kopf tragen kann, ohne aufzufallen. Hüte und Hufe - bei den Galopprennen verwandelt sich die Provinz alljährlich in ein britisches Hollywood. Dieses Jahr feiert Ascot seinen 300. Geburtstag.

300 Jahre ist es her, dass Königin Anne, kugelrund, gelangweilt und pferdeverrückt, im Wald von Windsor eine Lichtung fand und sie für renntauglich erklärte. Am 7. August 1711 ließ sie dort zum eigenen Amüsement - sie selber wagte sich nicht mehr auf einen Pferderücken - ein paar Mähren ihrer Jäger um 100 Gold-Guineen galoppieren.

Ascot ist ein Millionengeschäft

Heute versammeln sich an gleicher Stelle die schnellsten Pferde und die schönsten Frauen Großbritanniens. Ascot ist, ganz nebenbei, auch ein Millionengeschäft, doch um edle Gäule geht es nur am Rande. Wer an Renntagen den Zug von London-Waterloo nimmt oder sich in den langen Stau durch die Landschaft reiht, der hegt vor allem gesellschaftliche Ambitionen.

Ist man auf die königliche Tribüne eingeladen? Hat man einen Hut? Diese zwei Fragen bewegen im Frühling jeden Engländer von Rang. Ascot ist schließlich das Kronjuwel der "Season", des englischen Society-Sommers. Die Galopprennen sechs Meilen vor dem Schloss Windsor sind im Juni der Auftakt, dann zieht die Oberschicht weiter nach Wimbledon und trifft sich zum Abschluss bei der Henley-Ruderregatta an der Themse. Im Herbst, wenn das Parlament wieder tagt und die Moorhuhnjagd beginnt, endet die "Season". Dass sich der Takt dieser feinen Vergnügungen nicht ändert, liegt an drei extrem erfolgreiche Ingredienzien, auf die Ascot schon seit dem 18. Jahrhundert setzt: Pferde, Fashion und blaues Blut.

Königin Anne hat nicht viel von ihrem Zeitvertreib in der Heide von Eastcota, dem heutigen Ascot, gehabt. Die begeisterte Jägerin starb nur drei Jahre nachdem sie die Galopptradition begründet hatte - ohne noch vom Sieg ihres eigenen Pferdes zu hören. Mit 49 Jahren war sie so fettleibig, dass der Sarg nach den Überlieferungen eines Höflings "beinahe quadratisch" war. Doch sie hatte mit Ascot den Nerv der pferdeverrückten Nation getroffen.

Silberleuchter und Pasteten auf dem Parkplatz

Ihr Thronfolger setzte das Edel-Entertainment also fort. "Schon damals strömten auch ganz gewöhnliche Leute nach Ascot", sagt Historiker und Rennexperte Sean Magee, "es war für sie eine einmalige Gelegenheit zu sehen, in welchem Zustand sich ihr Monarch befand." Der saß auf einer Art hölzernem Jagdsitz an der Ziellinie, neben sich die Aristokraten, die dem Rennen aus ihren Kutschen zuschauten, um sich nicht unters gemeine Volk mischen zu müssen. Manche brachten eine zweite Proviantkutsche voller Zigarren, exotischem Obst und Weinen mit - die berühmten Picknicks waren geboren.

Auch heute ist die Galopprennbahn noch die Einzige, auf der Gäste im Inneren des Geläufs parken dürfen. Damen in exquisiten Kleidern und Herren in Gehröcken nehmen Platz am Kofferraum ihrer Oldtimer und lassen vom Butler servieren: Ungerührt von Tausenden Gästen, die an ihnen vorbeiströmen, stärken sie sich zwischen Tischdecken, Silberleuchtern, Porzellan und Pasteten mitten auf Parkplatz 1 und 2.

Schauspieler waren strikt verboten

Um Punkt 14 Uhr öffnen sich die goldenen Tore am Ende der Rennstrecke und die königliche Familie fährt mit ihren offenen Landauern aus dem Schloss Windsor ein - genauso, wie die Prozession schon 1825 aussah. Die Loge von Königin Elizabeth II. ist heute natürlich kein zusammengezimmertes Holzgerüst mehr, sondern eine High-Tech-Ellipse aus Glas mit bestem Blick auf die Ziellinie. Auch manche Vorschrift hat man behutsam modernisiert. So durften früher nur Gäste der Königin, vornehmlich Aristokraten, die Royal Enclosure betreten - jene Ränge direkt neben der Loge der Monarchen. Schauspieler waren strikt verboten. Heute bewirtet hier "X-Factor"-Celebrity Simon Cowell seine eigenen Gäste. Auch Geschiedene und Frauen im Hosenanzug - lange Zeit mit einem gesellschaftlichen Pfui belegt - werden nun toleriert.

Es gibt zwar niemanden mehr wie den Viscount Churchill, der vor hundert Jahren Anwärter für Plätze in der Royal Enclosure in die Kategorien "ganz sicher", "vielleicht" und "ganz sicher nicht" einteilte, doch die Tribüne ist einer der wenigen Orte Großbritanniens, in dem eine strikte Kleiderordnung herrscht. Verrücktheit ist erlaubt, viel Haut nicht: Eine Lady, die sich in ein Leopardenfell wickelt, an dem noch der Kopf des Raubtiers sitzt, fällt nicht so unangenehm auf wie eine Dame in Hotpants. Kurze Shorts sind übrigens seit 1971 auf der königlichen Tribüne verboten.

Alle anderen Fragen hat der Herzog von Devonshire, Vertreter der Queen in organisatorischen Belangen rund um das Spektakel, vor drei Jahren konkret beantwortet. Die Damen mögen bitte Unterhosen tragen, heißt es in seinen Anweisungen, Kleider sollen knielang sein, Hut ist Pflicht und keineswegs nur eine Option. "Doch die Kenntnis, was unter formaler Kleidung zu verstehen ist, schwindet", musste die Modepolizei von Ascot nüchtern feststellen - und hat dieses Jahr nachgelegt mit einer kleinen philosophischen Stilkunde. "Glamour", heißt es darin, "bedeutet, den Eindruck zu erwecken, man führe ein beneidenswertes Leben." Das "schönste und billigste Accessoire" sei immer noch ein Lächeln, auf Sprühbräune in Orange mögen die Ladys doch bitte verzichten. Genutzt hat es nichts.

Horden betrunkener Damen am Ladys' Day

Anwohner in Windsor schimpfen seit Jahren, dass sie besonders am Ladys' Day, jenem Donnerstag im Juni, an dem Frauen die verrücktesten Hüte tragen dürfen, ihr Haus nicht mehr verlassen mögen: Tourbusse und Horden betrunkener Damen machten schon frühmorgens die idyllische Heidelandschaft unsicher. Alkohol ist selbst in der Royal Enclosure, zu der nur Privilegierte Zutritt haben, ein Problem: Am Nachmittag kippt manche Wohlbehütete vom Stuhl und aus den Schuhen, die hohen Absätze schlammverkrustet, das formale Tageskleid derangiert. Im bürgerlichen Sektor beschweren sich Gäste über Frauen, die im Freien urinieren oder sich um freie Klos zoffen. Und in diesem Jahr schrieben Gentlemen in Cuts weltweit Schlagzeilen, weil sie sich mit erhobenen Champagnerflaschen ans Revers gingen. Dabei hatte ein Poet den Ladys' Day 1823 als den Tag beschrieben, an dem "die Frauen, engelsgleich, in göttlicher Lieblichkeit erstrahlen".

Dabei war Ascot nie nur ein Hort von Raffinesse und Kultiviertheit. Schon Ende des 18. Jahrhunderts gab es am Rennplatz ein mobiles Amtsgericht, in dem Taschendiebe und tricksende Wettbrüder verurteilt wurden. Man schnitt ihnen die Zöpfe von den Perücken, verprügelte, rasierte und versenkte sie; manch einer überlebte diese rabiate Tortur gar nicht. Hahnenkämpfe, blutige Spektakel, bei denen man den Tieren Rasiermesser an die Krallen band, waren an der Tagesordnung. Preiskämpfe unter Kirmesboxern am Rande warfen so viel Geld ab wie mancher siegreiche Gaul.

Sehnsucht nach Glamour in tristen Tagen

40.000 Menschen kamen bereits im Jahr 1791 nach Ascot, mit der von Snobs kritisch beäugten neuen Eisenbahnstrecke in die sündige Metropole London wuchs das Publikum 1856 weiter. Heute sind es allein während der Fünf-Tage-Rennen von Royal Ascot zehnmal so viele Gäste. Nach Fußball ist Galopprennen der wichtigste Sport im Königreich - über sechs Millionen Besucher und 600 Millionen Pfund Einnahmen kann sich der britische Rennsport freuen. Tendenz steigend - und das trotz der schlechten Wirtschaftslage.

Die Sehnsucht nach Glamour in tristen Tagen ist nicht der einzige Grund, warum sich das Freizeitvergnügen von Höflingen zu einem Sportereignis der Weltklasse entwickelt hat. "Die Qualität der Pferde ist einfach immer besser geworden", sagt Ascot-Experte Sean Magee. Statt robuster Jagd- und Kriegspferde von einst tänzeln auf dem Rasen heute nur noch aufgedrehte Vollblüter, die mit ihrer zierlichen Statur eher an übergroße Windhunde als an Lastentiere erinnern. "Es herrscht eine neue, internationale Atmosphäre", schwärmt Magee, "dieses Jahr haben an einem einzigen Rennen Pferde aus acht verschiedenen Nationen teilgenommen." Ascot gilt mittlerweile als Champions League des Reitsports.

Diese Karriere haben die Briten vor allem ihrem Königshaus zu verdanken. Queen Elizabeth kennt sich mit Pferdezucht bestens aus, Ascot ist ihr ganz persönliches Anliegen. Oft schaut sie ihren eigenen Tieren von der Loge aus beim Siegeslauf zu; ihre Tochter Prinzessin Anne mischt sich sogar ohne viel Brimborium unter Jockeys und Züchter. 1987 saß sie selbst im Sattel - und galoppierte als erstes Mitglied des Königshauses in Ascot zum Sieg. Queen Anne, der Großbritannien diesen Parcours zu verdanken hat, wäre das sehr sympathisch gewesen.