In Baden-Württemberg befürchten Experten eine neue Hantaviren-Epidemie. Besonders viele Fälle gibt es bislang in Stuttgart. Viele sind sich der Gefahr kaum bewusst – dabei kann eine Infektion Erreger durchaus gefährlich werden. Ein Betroffener berichtet.
Stuttgart - Er hatte wie immer seine Runde gedreht, erzählt Ulrich Merz. 15 Kilometer auf Feldwegen und durch den Wald. Dreimal die Woche absolviert der 64-Jährige sein Lauftraining – als Ausgleich zu seinem stressigen Bürojob. Doch seit jenem Tag Ende April ist seine Ausdauer nicht mehr dieselbe: „Es begann mit Fieber und Gliederschmerzen“, sagt Merz, der seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. Erst dachte er an eine fiebrige Erkältung. „Corona konnte ich ausschließen, weil ich mich kurz zuvor habe testen lassen.“ Doch als das Fieber immer höher stieg und sich scheußliche Rückenschmerzen einstellten, überwies ihn sein Arzt ins Krankenhaus. Der Verdacht der Mediziner: Akutes Nierenversagen aufgrund einer Hantavirusinfektion.
Vermehrt Krankenhauseinlieferungen aufgrund akutem Nierenversagen
Es ist nicht der erste Fall, der im Klinikum Stuttgart stationär behandelt wird: „Wir haben in den vergangenen Wochen mehr als zwei Dutzend Patienten mit einer Hantavirus-Infektionen aufgenommen“, sagt Jörg Latus, Leitender Oberarzt in der Klinik für Nieren-, Hochdruck- und Autoimmunerkrankungen am Klinikum Stuttgart. Alles spreche dafür, dass sich das Jahr 2021 zu einem sehr starken Epidemiejahr entwickeln könnte. Tatsächlich vermeldet das Landesgesundheitsamt Baden-Württemberg schon jetzt einen neuen Höchststand: So haben sich im Südwesten bislang 894 Menschen mit dem Hantavirus infiziert (Stand 16. Juni). Zum Vergleich: Im Jahr 2019 – das von Experten als „starkes Hantavirenjahr“ eingestuft wurde, gab es insgesamt 833 Fälle. Und der Trend führt weiter nach oben. „Das Tückische ist: Die meisten Menschen wissen gar nicht um die Infektionsgefahr“, sagt Latus.
Menschen infizieren sich, indem sie den verunreinigten Staub einatmen
Auch Merz war überrascht angesichts der Diagnose, die man ihm im Klinikum Stuttgart nach eingehender Blutuntersuchung überbrachte. „Ich hatte von einer solchen Infektion noch nie zuvor gehört.“ Dabei hat sich das Hantavirus im Südwesten Deutschlands extrem ausgebreitet. Übertragen wird die Krankheit nicht von Mensch zu Mensch, sondern von Tier zu Mensch – hauptsächlich über die Rötelmaus. Einmal angesteckt, scheidet der Nager die Viren lebenslang über den Speichel oder den Kot aus. Menschen infizieren sich, indem sie den verunreinigten Staub einatmen – beim Auskehren von alten Schuppen beispielsweise oder wenn man querfeldein durch den Wald streift, so wie Ulrich Merz.
Häufig ist eine grippeähnliche Krankheit mit Fieber, Kopf- und Gliederschmerzen
Beim Menschen führt der Erreger zu völlig diffusen Krankheitsbildern: Häufig ist eine grippeähnliche Krankheit mit Fieber, Kopf- und Gliederschmerzen, erklärt Jörg Latus, der seit Jahren an dieser Erkrankung forscht. „Es gibt aber auch Fälle, bei denen Infizierte Beschwerden wie bei einer Darmgrippe haben oder plötzlich über Sehstörungen klagen weil ihre Linse angeschwollen ist.“ Schwere Verläufe mit Nierenversagen sind insbesondere bei älteren Personen keine Seltenheit. „Aber es gibt auch das andere Extrem“, sagt Latus. „Nämlich, dass die Infektion komplett symptomlos verläuft.“ So haben Virologen bei Routineuntersuchungen an Menschen gelegentlich Antikörper gegen Hantaviren im Blut festgestellt. Es gibt offenbar schon einige ehemalig Infizierte, die mit dem Erreger in Kontakt gekommen waren, ohne es zu bemerken.
Risikogebiete sind vor allem die Schwäbische Alb und der Raum Stuttgart
Baden-Württemberg gilt als Endemiegebiet: „Das heißt, hier treten Hantaviren-Infektionen regelmäßig auf“, sagt Christiane Wagner-Wiening vom Landesgesundheitsamt in Stuttgart. Alle zwei Jahre, so rechnen die Experten, kommt es hierzulande zu sogenannten Ausbruchsjahren. Die bislang stärkste Epidemie wurde im Jahr 2012 beobachtet: Damals gab es 1797 registrierte Erkrankungen. Betroffen sind vor allem Regionen mit hohem Buchenwaldanteil, da sich dort die Rötelmaus sehr wohlfühlt – etwa die Schwäbische Alb und der Großraum Stuttgart, in dem es ebenfalls viele Buchen gibt.
Gute Nahrungsbedingungen in Folge einer sogenannten Buchenmast im Herbst 2020 sprechen für ein vermehrtes Vorkommen dieser Nagetiere in diesem Jahr, bestätigt Jürgen Wippel, Stellvertretender Sprecher des Ministeriums für Ernährung, Ländlichen Raum und Verbraucherschutz. Und damit für ein erhöhtes Risiko, sich mit dem Hantavirus anzustecken. Denn in den Mäusepopulationen im Südwesten scheint sich der Erreger besonders gut festgesetzt zu haben.
Trockene Sommer bieten Mäuse eine gute Nahrungsgrundlage
Ob die Ausprägungen des Klimawandels die Erkrankungsraten auch künftig im Land weiter in die Höhe treiben könnte, darüber lässt sich keine klare Aussage treffen. Allerdings gebe es eine gewisse Tendenz zu etwas häufigeren Mastjahren, so Wippel. Die trockenen Sommer der vergangenen Jahre haben den Buchen ordentlich zugesetzt. „Die Bäume mobilisieren dann häufig ihre letzten Kräfte, um nochmals ordentlich Früchte zu bringen.“ Auch Studien aus Schweden und Frankreich haben ergeben, dass höhere Temperaturen wohl vermehrt zu Nierenerkrankungen führen, die durch Hantaviren ausgelöst werden.
So kann man sich vor dem Virus schützen
Eine Impfung gegen das Virus gibt es in Deutschland zumindest nicht. Zum Schutz vor einer Infektion rät das Landesgesundheitsamt beim Putzen und Kehren von Garagen, Kellern oder Scheunen oder bei Gartenarbeiten eine Staubmaske zu tragen, um den Kontakt mit den trockenen Ausscheidungen der Nager zu vermeiden. Es hilft auch, den Boden vor der Arbeit nass zu spritzen, sodass der Staub sich setzt und nicht aufgewirbelt wird. Aber ein gewisses Ansteckungsrisiko lässt sich auch dadurch nicht vermeiden, wie das Beispiel Uwe Merz zeigt.
Eine Woche musste Merz im Krankenhaus bleiben, damit sich seine Nieren unter ärztlicher Beobachtung erholen konnten. „Ich durfte erst mal nichts trinken, obwohl ich höllisch Durst hatte“, sagt Merz. Nach einigen Tagen hatten sich seine Blutwerte normalisiert und er konnte wieder normal auf die Toilette gehen.
Die Todesrate wird in Deutschland auf unter 0,1 Prozent geschätzt
Tatsächlich sind Folgeschäden aufgrund einer Hantavirusinfektion relativ selten, sagt der Stuttgarter Experte Jörg Latus. Die Todesrate schätzt er in Deutschland auf unter 0,1 Prozent, „weil die Virustypen hier vergleichsweise harmlos sind, und die medizinische Versorgung so gut ist“. Allerdings braucht es Zeit, bis sich der Körper von einer solchen Infektion erholt. Das kann Ulrich Merz bestätigen: Es ist rund sechs Wochen her, dass er das Krankenhaus verlassen hat. „Ich fühle mich immer noch schnell schlapp.“ Statt joggen zu gehen, unternimmt Merz Spaziergänge – „bis mein Körper mir signalisiert, ich kann wieder loslaufen.“