„Am Abend des Lebens“: Hans Küng vor der Gesamtausgabe seiner Werke in Tübingen. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Kurz vor seinem 87. Geburtstag am 19. März stellt Hans Küng in Tübingen das erste Buch seiner auf 24 Bände angelegten sämtlichen Werke vor. Zwei bis drei Bände jährlich sind geplant.

Tübingen - Hans Küng kennt diesen Raum seit Jahrzehnten. Vor mehr als 35 Jahren saß er hier schon einmal: im Studio 3 des Südwestrundfunks (SWR) in Tübingen. Am 15. Dezember 1979 stellte ein vom damaligen Papst Johannes Paul II. gebilligter Erlass der vatikanischen Glaubenskongregation unter Kurienkardinal Franjo Kardinal Šeper gravierende Abweichungen des weltbekannten Theologieprofessors von der katholischen Lehre fest. Dies machte Küngs Verbleib im theologischen Lehramt an der Tübinger Eberhard Karls Universität unmöglich.

Der damals 51-Jährige Küng hielt daraufhin in eben diesem Hörfunk-Studio eine Pressekonferenz ab, in der er seine theologische Position zum Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit – die er in seinem Buch „Unfehlbar? Eine Anfrage“ aus dem Jahre 1970 geleugnet hatte – verteidigte. Er erklärte, weder vor dem Papst und dem Vatikan noch vor den deutschen Bischöfen klein beizugeben. Im Dezember 1979 entzog die Deutsche Bischofskonferenz Küng die kirchliche Lehrbefugnis (die sogenannte Missio canonica). Er selbst sah darin vor allem eine Reaktion auf seine Kritik am Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit.

1980-2015: Wegmarken

Es war, wie der heute 86-Jährige an gleicher Stelle an diesem Dienstagvormittag berichtet, ein Wendepunkt in seinem Leben. „Vom 18. Dezember 1979 bis zum 10. April 1980 waren dies die vier schlimmsten Monate meines Lebens, die ich auch meinen erbittertsten Gegnern nicht wünschen kann. Ich wusste damals nicht, wie es weitergeht. Aber der Schritt als fakultätsunabhängiger Professor an der Universität Tübingen war der richtige“, sagt er rückblickend. 1980 wurde Küng dann fakultätsunabhängiger Professor für Ökumenische Theologie und Direktor des Instituts für ökumenische Forschung der Universität Tübingen – ein Amt, das er bis zu einer Emeritierung als Professor im Jahre 1996 innehatte.

Küng und seine Weggefährten

Kardinal Šeper starb am 30. Dezember 1981, sein Nachfolger wurde der damalige Münchner Erzbischof Joseph Ratzinger, ein langjähriger Weggefährte und Kontrahent Küngs, der am 1. März 1982 sein neues Amt in Rom antrat. Nach 23 Jahren als Präfekt der Vatikanischen Glaubenskongregation und damit als zweitmächtigster Mann im Vatikan wurde Ratzinger am 19. April 2005 zum neuen Papst gewählt. Als Benedikt XVI. trat er die Nachfolge des polnischen Pontifex Johannes Paul II. (18. Mai 1920-2. April 2005) an.

Am 11. Februar 2013 gab Benedikt XVI. während einer Versammlung der Kurienkardinäle in Rom (dem sogenannten Konsistorium) bekannt, zum 28. Februar 2013, 20 Uhr „auf das Amt des Bischofs von Rom, des Nachfolgers Petri,zu verzichten“. Ihm folgte am 13. März 2013 nach dem fünften Wahlgang des Konklaves – der Papstwahl - der damalige Kardinal der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires, Jorge Mario Bergoglio (geboren am 17. Dezember 1936) nach. Als Papst Franziskus ist er der 266. Bischof von Rom, Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche und Souverän des Vatikanstaats ist. Franziskus ist zugleich der erste Amerikaner und der erste Jesuit in diesem höchsten Amt der katholischen Kirche.

Gebrechlich, aber geistig fit

Der noch vor wenigen Jahren so agile und umtriebige Gelehrte ist deutlich gealtert. Hans Küng kommt am Stock zum Gespräch, zu das ihn der Tübinger Presseclub eingeladen hat. Anlass ist die Präsentation des erstes Bandes seiner Gesammelten Werke, die der Freiburger-Herder Verlag herausgibt. Die markanten Gesichtsfalten, der immer noch dichte, wenn auch schütter gewordene graue Haarschopf, das lebensfrohe Lächeln sind geblieben. Auch wenn Hans Küng leise redet, ist er während des anderthalbstündigen Gesprächs doch unglaublich präsent und geistig wach. Trotz körperlicher Gebrechen und dem Alter, das seinen Tribut fordert, wirkt der große Universalgelehrte, der am 19. März 87 Jahre alt wird, mit sich, seinem Leben und seinem Werk zufrieden.

Küngs in der modernen Theologie an thematischer Vielfalt und inhaltlicher Geschlossenheit einzigartige „Opus magnum“, das an die „Summa Theologica“ des mittelalterlichen Kirchenlehrers Thomas von Aquin – Küngs großes theologisches Vorbild erinnert, ist hinter ihm auf einem Fenstersims als Dummy-Ausgabe aufgereiht. Anderthalb Meter Buch, Rücken an Rücken, in schwarzem Umschlag, mit Küngs Unterschrift in weißen Buchstaben und dem Titel in hellgrüner Schrift.

Manuel Herder (49), der den katholischen Verlag in sechster Generation leitet, hat die Bücher vor Beginn des Gesprächs dort aufgereiht, zusammen mit dem Herausgeber der Werke, Stephan Schlensog (57). Der Theologe und Indologe Schlensog, der nach eigener Aussage seit 30 Jahren mit Küng zusammenarbeitet, ist Geschäftsführer der Tübinger „Stiftung Weltethos“, die Küng 1995 gründete und bis 2013 als Präsident leitete.

Der erste Band kostet 70 Euro

Der Herder-Verlag will jedes Jahr vier Bücher der auf insgesamt 24 Bände angelegten wissenschaftlichen Gesamtausgabe publizieren. An diesem sonnigen Vormittag – zwei Tage vor Küngs Geburtstag – stellt der Gelehrte in seiner Heimatstadt Tübingen, wo er seit mehr als 50 Jahren wohnt – sichtlich stolz und „hoch erfreut“ wie er sagt – das erste gebundene Exemplar vor. „Rechtfertigung“ lautet der vielsagende Titel, der noch in diesem März als Printausgabe für den Preis von 70 Euro und einer Startauflage von 3000 Exemplare in die Buchläden kommt. Gleichzeitig kann man das opulente Werk wie alle folgenden 23 Bände digital als E-Book im Online-Shop erwerben.

Der erste Band der Werkausgabe vereinigt Küngs Schriften zur Rechtfertigungslehre: von bisher unveröffentlichten Texten wie etwa „Über den Glauben. Ein Versuch“ aus dem Jahre 1954 über Küngs große Auseinandersetzungn mit Karl Barth, die er 1957 als Dissertation an der Pariser Universität Sorbonne einreichte, bis hin zu den neueren Texten zu Luther, zur Reformation und zur Rechtfertigung des Sünders.

Manuel Herder: „Küngs theologisches Denken für die Zukunft sichern“

„Uns geht es darum, die volle Breite des theologischen Denkens von Hans Küng für die Zukunft zu sichern“, sagt Manuel Herder, der bei Küng bereits als Theologiestudent Seminare belegte. Der Verlag editiert bereits die gesammelten Schriften des Religionsphilosophen Bernhard Welte sowie der Theologen Karl Rahner, Walter Kasper, Raymund Schwager und Joseph Ratzinger. Küngs Œuvre vervollständigt die illustre Liste dieser katholischen Elite-Denker. Im Herbst soll außerdem der erste Band der Gesamtausgabe des katholischen Theologen Johann Baptist Metz erscheinen, der wie Küng im Jahr 1928 geboren wurde und als Begründer der „Politischen Theologie“ gilt.

Von 1958 bis 1959 war Küng Seelsorger an der Hofkirche in Luzern. Als wissenschaftlicher Assistent arbeitete er danach an der Katholisch-Theologischen Fakultät in Münster von 1959 bis 1960.In diesem Jahr erschien auch sein erster großer Publikumserfolg: „Konzil und Wiedervereinigung“. Wie so viele seiner Bücher ein mehrere Hundert Seiten dicker Wälzer über Gegenwart und Zukunft der Ökumene. Es war zugleich das erste von vielen Schriften, die der Theologe bei Herder veröffentlichte. Sie machte den bis dahin nur Insidern bekannten Nachwuchstheologen über Nacht berühmt – und zugleich umstritten.

Nach 55 Jahren, davon 36 als Theologieprofessor in Tübingen (1960 folgte Küng mit erst 32 Jahren einem Ruf als Professor für Fundamentaltheologie an die Katholisch-Theologische Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen als Nachfolger von Heinrich Fries) und 16 Ehrendoktorwürden aus aller Welt steht Hans Küng kurz vor seinem 87. Geburtstag. Aus diesem Anlass hat Manuel Herder zwei originale Schwarzwälder Kirschtorten und Badischen Winzersekt mitgebracht. Im dreistimmigen Chor dirigiert der Kirchgänger die Anwesenden, die zu Ehren des gerührten Jubilars das Geburtstagständchen „Viel Glück und viel Segen auf all deinen Wegen“ anstimmen.

Einer der bekanntesten Theologen der Gegenwart

Der am 19. März 1928 in Sursee im schweizerischen Kanton Luzern geborene Küng ist einer der bekanntesten und streitbarsten Theologen der Gegenwart. Anders als sein ehemaliger Tübinger Professorenkollege Joseph Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI., machte er keine Kirchenkarriere, sondern geriet immer wieder in Konflikt mit Päpsten wie Paul VI., Johannes Paul II. und Benedikt XVI. sowie der vatikanischen Kurie. Zuletzt löste er im Herbst 2014 mit seinen Überlegungen zur aktiven Sterbehilfe eine heftige öffentliche Debatte aus.

„Posthum soll man sagen: Hans Küng war auf dem richtigen Weg“, sagte er. Als er seine Lesebrille aufzieht und das zweiseitige Vorwort zum ersten Band der Sämtlichen Werke vorliest, strahlt Küng vor Glück. „Eine bessere Rehabilitation kann es nicht geben“, meint er und lächelt. „ch empfinde e als eine völlig unverdiente Gnade, dass ich drei Jahre vor meinem 90. Geburtstag, eine so erfreuliche anspruchsvolle Aufgabe übertragen bekommen habe, die meinen letzten Lebensjahren noch einmal einen besonderen Sinn verleiht.“

Wie in den zurückliegenden Jahrzehnten sitzt Küng auch in diesen Tagen und Wochen wieder in seiner Bibliothek im ersten Stock seines Hauses in Tübinger Halbhöhenlage und schreibt die Einleitungen zu den einzelnen Bänden nieder. Handschriftlich, so wie er es immer tat, auf einen DIN-A4-Block. Seine Sekretärin überträgt die Notizen in den Computer.

Ein letztes Buch über sieben Päpste

„Meine lebenslangen theologischen Bemühungen haben aufseiten der kirchlichen Hierarchien kaum Dank erfahren. Umso größere Zustimmung aber erfahre ich bis heute vonseiten der breiten Öffentlichkeit und der Basis der Kirche.“ Er wolle noch ein Buch über seine Zeit mit sieben Päpsten schreiben – von Pius XI. über Benedikt XVI. bis zu Franziskus. Es wäre sein letztes Buch, das zugleich als letzter Band der Gesammelten Werke unter „Varia“ erscheinen soll.

Über Benedikt XVI. sagt er: „Ich bin froh, dass er seinen Weg gegangen ist und den Mut hatte zurückzutreten. Das war ein gelungenes und würdiges Ende.“ Indes verstehe er alles, was er geschrieben habe und noch schreiben werde, als „Ermutigung für Papst Franziskus“, sagt der Tübinger. Nichts in seinem Werk sei überholt. „Vieles ist noch immer brandaktuell und hat bis heute eine Aktualität und Sprengkraft.“ Mit Blick auf die ersten zwei Jahre des Pontifikats von Jorge Mario Bergoglio als Papst ergänzt er: „Ich hoffe, dass Papst Franziskus gerade in der Frage der wiederverheiratet Geschiedenen bei der Familiensynode im Herbst eine Lösung findet.“

Die katholische Kirche habe „eine Menge aufzuarbeiten und ich hoffe, dass die deutschen Bischöfe nicht nur Phrasen von sich geben, sondern wahrhaftig sind.“ Da blitzt wieder der „Kirchenrebell“ in ihm auf, der die kirchlichen Amtsträger über Jahrzehnte das Fürchten lehrte und vielen, die an der real existierenden Kirche verzweifelten, neuen Mut und Hoffnung auf Reformen gab.

Sorbonne, Tübingen, Rom

Der erste Band der Gesamtausgabe mit dem Titel „Rechtfertigung“, der im März 2015 erschienen ist, enthält – wie bereits erwähnt – Hans Küngs erste im Jahr 1957 veröffentlichte Schrift: seine Doktorarbeit an der Pariser Universität Sorbonne über den evangelisch-reformierten Theologen Karl Barth (1986-1968) – übrigens wie Küng Schweizer – und die jahrhundertelange katholisch-protestantische Kontroverse um die sogenannte Rechtfertigungslehre, einem zentralen Thema sämtlicher christlichen Kirchen. Diese Studie schlug in den späten 1950er Jahren wie eine Bombe in den ökumenischen Dialog ein und war der Anfang vom Ende des katholisch-evangelischen Stillstandes. Der zweite Band „Konzil und Ökumene“ mit den Monografien zur Kirche und Ökumene aus den frühen 1960er Jahren wird im April 2015 erscheinen.

Den Dialog der Religionen voranzubringen ist seit seiner Emeritierung im Jahr 1996 als fakultätsunabhängiger Professor für Ökumenische Theologie und Direktor des Instituts für ökumenische Forschung der Eberhard Karls Universität Tübingen zu Küngs Lebensaufgabe geworden. „Kein Weltfrieden ohne Religionsfrieden“, lautet seine zentrale These, die er seit fast zwei Jahrzehnten als Vortragsreisender in Sachen interreligiöser Dialog verkündet.

Griechenland, Nahost und Russland

„Wir müssen das, was wir in Europa aufgebaut haben, verteidigen. Wenn wir nicht auf eine Verständigung mit den Religionen und Nationen setzen, wird alles nur noch schlimmer.“ Ob die Griechenland- und Euro-Krise, die Parlamentswahl in Israel und dem Friedensprozess im Nahen Osten, den Konflikten in Syrien, im Irak, in Afghanistan und der Ukraine, den Spannungen zwischen der Nato und Russland, dem Terror der Islamisten oder der Rolle Deutschlands in der Weltpolitik und in internationalen Konflikten: Hans Küng äußert sich noch immer ungebrochen akzentuiert, kritisch und provokant zu aktuellen politischen und kirchenpolitischen Brennpunkten.

„Varoufakis dumme und unerträgliche Sprüche“

Auf die Krise des Euro-Landes Griechenland angesprochen, empört er sich: „Was die griechische Koalitionsregierung unter Alexis Tsipras betrifft, ich finde sie und die Beleidigungen von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble unerträglich.“ Die Frage einer Umschuldung sei allerdings berechtigt – „unabhängig von der völlig unsinnigen griechischen Politik und den dummen Sprüchen des Finanzministers Yanis Varoufakis“.

Auch zum Erstarken der Islamisten in der arabischen Welt seit den Anschlägen des Terrornetzwerkes El Kaida in den USA am 11. September 2001 hat er seine eigene selbstbewusste Meinung: „Hätte man sich damals meine Erkenntnisse zum Weltethos und zum Dialog der Religionen zunutze gemacht, hätte es den heutigen Nahost-Konflikt gar nicht gegeben.“ Doch Küng will auch Mut machen: „Krisenzeiten können fruchtbar sein, wenn man neue Wege geht.“

Notorischer Grenzgänger

Als notorischer Grenzgänger hat Hans Küng die vom Vatikan gesteckten Grenzen immer wieder überschritten. Er habe „aus dem Land Wilhelm Tells eine gewisse Standfestigkeit mitbekommen, die Hierarchen oft missfällt“, beschreibt er seinen Charakter. Mit dieser Standfestigkeit hat er seit Mitte der sechziger Jahre die innerkirchliche Erneuerung vorangetrieben und vielen Christen Mut gemacht, zu ihrem Glauben zu stehen. Doch sein Beitrag ist nicht unumstritten. Viele Kritiker halten Küng allzu viel Selbstbeschäftigung, Eitelkeit, Narzissmus und zu wenig Verständnis für die Verantwortung der kirchlichen Hierarchie und der politisch Verantwortlichen vor.

Seinen Kritikern begegnet Hans Küng auch an diesem tag kampfeslustig und streitbar wie eh und je. Er hält ihnen vor, dass er mit seinen Überzeugungen Recht behalten habe. „Wenn man in der Politik und Kirche beachtet hätte, was ich seit den 1990er Jahren im Weltethos entwickelt habe, dann würde es die heutigen Probleme nicht geben. Es ist wie eine negative Bestätigung dessen, was ich immer schon geschrieben habe.“

Der Name Küng ist seit Jahrzehnten ein Markenzeichen in der Theologie. Er war der erste Theologe, der dem Autor – 1974 als Sextaner am Gymnasium – über den Weg lief. Küngs Buch „Christ sein“ (1974) lag eines Tages auf dem Schreibtisch. Ein Geschenk des Vaters, selbst ein begeisterter Leser des Tübinger Gelehrten. 13 Jahre später, als der Autor in Kolumbien studierte, war der Name Küng wieder präsent.

Küng und Lateinamerika

Einen Studenten in der Bibliothek des Priesterseminars der Hauptstadt Bogotá nach Büchern des Schweizers gefragt, antwortete dieser: Küng? Klar, den würde er kennen. Jeder würde die Bücher des berühmten deutschen Theologen lesen. Nur sei es nicht hilfreich, seinen Namen laut auszusprechen. Man muss wissen, dass in den 1980er Jahren weder in der erzkonservativen kolumbianischen Kirche noch im Vatikan Reformtheologen (wie Hans Küng) oder Vertreter der basisorientierten „Theologie der Befreiung“ (wie der Brasilianer Leonardo Boff oder der Peruaner Gustavo Gutiérrez) nicht gerade gern gesehen waren. Und das obwohl Küngs in mehr als 25 Sprachen übersetzten Bücher nicht nur in Europa, sondern auch gerade in Nord- und Südamerika sowie in Asien viel gelesen wurden.

Über Küng gibt es viele Anekdoten. Eine erzählte dem Autor ein inzwischen emeritierter Theologieprofessor und ehemaliges Mitglied der Päpstlichen Theologenkommission. Dieser Priester kennt den Schweizer noch aus Studientagen. Mitte der 1950er Jahre lernte er ihn im „Pontificium Collegium Germanicum et Hungaricum“ – dem Seminar für die deutsche Priesteramtskandidaten in Rom – kennen. In dem altehrwürdigen Renaissance-Palastes in der Via Leonida Bissolati 54 trafen sich Querdenker, Progressive und Revoluzzer zum Disput. Unter ihnen ein junger aufstrebender Student, der durch stupendes Wissen, unstillbare Neugier und ein großes Selbstbewusstsein auffiel. „Hans Küng hatte immer das letzte Wort“, erinnert sich sein Ex-Kommilitone. „Für ihn gab es nur zwei Berufswünsche: Papst oder Kirchenkritiker.“ Bekanntlich wurde aus dem im schweizerischen Kanton Luzern als Sohn eines Schuhhändlers geborenen Küng ein Kirchenkritiker.

Im November 2013 saß Hans Küng mit der TV-Moderatorin Anne Will im Arbeitszimmer seines Hauses in Tübingen und redete mit ihr über sein Leben, über seinen Glauben und die Angst vor dem Sterben. Mit dem Schreiben habe er Probleme, erzählte Küng damals. „Ich habe Schwierigkeiten mit den Augen, eine altersbedingte Makuladegeneration, mit dem Rücken, mit dem Lendenwirbel und so weiter. Das ist alles nicht schlimm, wenn man so will, aber es geht mehr drum, dass es einfach mal Zeichen sind, dass die letzte Periode angegangen wurde und dass mein Leben auch nicht ewig dauert.“

Küng und die Ökumene

Hans Küngs Werk ist in seinem Umfang und Themenvielfalt beispiellos. Der erste Band der Gesamtausgabe trägt den Titel „Rechtfertigung“. Nach dem Philosophie- und Theologiestudium an der Päpstlichen Universität „Gregoriana Pontificia“ in Rom (1948-1955) folgten bis 1957 Studien an der Sorbonne und dem Institut Catholique in Paris. Dort wurde Küng mit einer Dissertation zum Thema „Rechtfertigung. Die Lehre Karl Barths und eine katholische Besinnung“ promoviert. Karl Barth (1886-1968), der große evangelisch-reformierte Theologe – wie Küng selbst Schweizer – , schrieb einen Geleitbrief. Mit diesem 768-Seiten-Erstlingswerk versuchte Küng, die Differenzen zwischen Protestanten und Katholiken in der zentralen ökumenischen Frage der Rechtfertigungslehre zu überwinden. Er wurde damit zu einem der Wegbereiter der gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre von kirchenoffizieller Seite im Jahre 1999.

Die Rechtfertigungslehre war seit den ersten Tagen der Reformation zwischen den getrennten Konfessionen strittig. Martin Luther trieb die Frage um, wie der Mensch angesichts seiner Sündhaftigkeit von Gott gerechtfertigt werden könne. Dies geschieht nicht durch Werke der Barmherzigkeit, Demut, Nächstenliebe oder den Empfang der Sakramente. „Sola fide“ – durch Glauben allein – wird der Mensch vor Gott gerechtfertigt. Dieser reformatorische Grundsatz drückt die Überzeugung aus, dass der Mensch sich die von Gott geforderte Gerechtigkeit nicht erarbeiten oder verdienen kann, sondern dass er allein durch den Glauben an das Versöhnungswerk Christi gerettet wird.

Küngs erstes Inquisitionsdossier

Küng hatte sich schon im Studium brennend für das Heil der Nichtchristen interessiert. Damals in vorkonziliarer Zeit war der Dialog der Konfessionen und Religionen alles andere als selbstverständlich. Wer sich sich mit den „Infideles“ – den Ungläubigen – beschäftigte und Bücher von Martin Luther, Karl Barth, Rudolf Bultmann, Friedrich Gogarten, Emil Brunner, Paul Tillich oder anderen protestantischen Geistesgrößen las, war den vatikanischen Glaubenswächtern Glaubens verdächtig. Schon 1957 wurde über ihn in Rom ein Inquisitionsdossier angelegt. Dennoch wurde er 1963 – zusammen mit Joseph Ratzinger – Berater (Peritus) auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965).

Nach den Lizenziaten in Philosophie und Theologie wurde Küng am 10. Oktober 1954 zum Priester der Diözese Basel geweiht. Er beschäftigte sich damals intensiv mit der „Kirchlichen Dogmatik“, dem viele Tausend Seiten umfassenden Hauptwerk Karl Barths. Es folgten weitere Studien in Amsterdam, Berlin, Madrid und London. Nach seiner Promotion begann er sich für seine Habilitationsschrift mit Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) auseinanderzusetzen. Dieses Buch über die christologischen Quellen des Hegelianischen Idealismus veröffentlichte er 1970 unter dem Titel „Menschwerdung Gottes. Einführung in Hegels theologisches Denken als Prolegomena zu einer künftigen Christologie“.

„Grenzen durchbrechen“ heißt eine Biographie, die vor einiger Zeit erschien. Hans Küng rüttelte an der päpstlichen Unfehlbarkeit, bestritt die Unabänderlichkeit des Zölibats und wollte Frauen zum Priesteramt zugelassen sehen. Die römische Zentrale unterschätzte zeitlebens den Widerstandsgeist des selbstbewussten Schweizers. An seiner Rehabilitation halte er „natürlich fest“, obwohl zwischen ihm und Rom „Funkstille“ herrsche – trotz einer mehrstündigen Unterredung mit dem damaligen Papst Benedikt XVI. am 24. September 2005.Er habe es satt, ständig als Kirchen- und Papstkritiker apostrophiert zu werden. „Das betreibe ich sozusagen mit dem kleinen Finger. Ich möchte nach meinem Gesamtwerk und seiner Universalität beurteilt werden“, sagte Küng einmal.

Jede Seite des Gesamtwerkes dieses Universalgelehrten, der acht Sprachen spricht, „stammt aus meiner Feder“, versichert er. „Ich versuche die Wahrheit zu sagen. Was ich sage, ist nach allen Seiten unbequem.“ Wie kaum ein anderer Gegenwartstheologe hat Hans Küng die öffentliche Diskussion inner- und außerhalb der Kirche mitbestimmt. Sein Werk ist von kaum überschaubarer Themenvielfalt: Angefangen von der Auseinandersetzung mit der ökumenischen Situation der Konzils- und Nachkonzilszeit über die Forderung nach radikaler Kirchenreform bis hin zum Dialog mit den Weltreligionen. Sicher hat auch die klare, knappe, aus innerer Freiheit sprudelnde Sprache zum beispiellosen Erfolg seiner Bücher beigetragen.

Meisterhafte Sprache und gut lesbare Sätze

Nur wenige verstehen es so meisterhaft wie er, komplexe Sachverhalte in klare, verständliche und gut lesbare Sätze zu fassen, ohne dem Leser das Nachdenken zu ersparen. Sogar Paul VI., erzählte er einmal mit sichtlicher Genugtuung, habe ihm bekundet, dass „ich einer der wenigen Theologen bin, die über die Mauern der Kirche hinauskämen“. Wie das Konzil will er den Dialog zwischen Kirche und moderner Welt, christlichen Konfessionen und Weltreligionen vorantreiben. Es ist vielleicht seine persönliche Tragik, dass er diesen Dialog mit der eigenen Kirchenleitung vergebens gesucht hat.

Die Gesamtausgabe folgt dem Erscheinungsjahr der einzelnen Schriften: Von 1957 bis 1970 beschäftigte sich Küng vor allem mit ökumenischen Fragen. Aus dieser Zeit stammen die großen Monografien „Konzil und Wiedervereinigung“ (1960, Band 2), „Strukturen der Kirche“ (1962) und „Die Kirche“ (1967, Band 3) und „Unfehlbar? Eine Anfrage“ (1970, Band 5). Mit diesem Bändchen entfachte er eine heftige Debatte um das Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit.

Bereits in seiner Dissertation 1957 hatte er theologische Differenzen zwischen den Konfessionen als gering eingeschätzt. Besonders in „Die Kirche“ und „Unfehlbar?“ kritisierte er zentrale Strukturelemente der Kirche. Es kam, wie es kommen musste: 1968 wurde er von der vatikanischen Glaubenskongregation zu Gesprächen eingeladen. Weder kam ein Gespräch zustande noch war Küng zu einer schriftlichen Stellungnahme bereit. Hier zeigte sich erneut ein grundlegender Charakterzug: Der Schweizer ist bis heute nicht bereit, sich seine Meinung durch Autoritäten oder Gremien verbieten zu lassen.

Ein scharfer Kritiker – der Mannheimer Philosoph Hans Albert

Die Rückführung des Glaubens auf die Vernunft, die wechselseitige Durchdringung von „Fides“ und „Ratio“, ist das zentrale Anliegen der Küngschen Theologie. Der Philosoph Hans Albert, von 1963 bis 1989 Inhaber des Lehrstuhls für Soziologie und Wissenschaftslehre an der Universität Mannheim, gilt als einer der Hauptvertreter des Kritischen Rationalismus – und als scharfer Kritiker Küngs.

Dessen These, der Gottesglaube sei rational vertretbar, beruhe auf Denkfehlern, so Albert. In seinem Buch „Das Elend der Theologie. Kritische Auseinandersetzung mit Hans Küng“ (1979) schreibt Albert: „Die Theologie ist in ihrem Denken mehr als je zuvor durch das Vorurteil für bestimmte Glaubensbestände geprägt. Sie ist gewissermaßen der professionalisierte und institutionalisierte Missbrauch der Vernunft im Dienst des Glaubens, soweit dogmatische Fragen in Betracht kommen.“

Es ist die Kernaufgabe und zugleich das grundlegende Dilemma jeder christlichen Apologetik und Fundamentaltheologie, die Grundlagen des Glaubens mittels der Vernunft einsichtig und nachvollziehbar zu machen. „Der Glaube kommt aus dem Hören der Botschaft; und diese gründet sich auf das, was Christus gesagt hat“, heißt es im Römer-Brief (Kapitel 10). Im Ersten Petrus-Brief, Kapitel 3) ist zu lesen: „Seid allezeit bereit zur Verantwortung vor jedermann, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die in euch ist.“

Als kritischer Rationalist geht der Philosoph Albert davon aus, dass die menschliche Vernunft grundsätzlich fehlbar ist. Nur wer ständig bereit sei, Hypothesen zu überprüfen, mache den Fortschritt der Wissenschaften möglich. Alle Versuche, eine letztbegründete Wahrheit zu behaupten, scheitern nach Ansicht Alberts an einer Art logischen Zirkelschluss und am willkürlichen Abbruch des Begründungsverfahrens. Es gibt Albert zufolge keinen archimedischen Punkt, dessen Wahrheit gewiss sei.

Grundvertrauen oder Grundmisstrauen

Doch genau dies behauptet Küng. Als Alternative für das Grundvertrauen, den Weg zu und mit Gott, nennt er ein Grundmisstrauen, das er mit dem Atheismus und Nihilismus gleichsetzt. Entweder existiert Gott oder das Nichts, wie er in seinem Buch „Existiert Gott? Anfrage auf die Gottesfrage der Neuzeit“ (1978) feststellte.

Agnostiker und Atheisten wie Albert Camus oder Jean-Paul Sartre haben sich an diesem Entweder-Oder nie gestört. Die beiden französischen Existenzialisten plädierten zeitlebens für die größtmögliche Autonomie menschlicher Freiheit. Lieber als Sisyphus gescheitert und das Nichts vor Augen als mit der Lüge leben und sterben, dass Gott existiert. Doch dies war nie Küngs Überzeugung.

Beim letzten Besuch des Autors zum 80. Geburtstag des Gelehrten in Tübingen zeigte sich Küng voller produktiver Unruhe und Tatendrang. In seinem neunten Lebensjahrzehnt wolle er sich ganz auf seine Weltethos-Stiftung konzentrieren. Und schließlich wolle er den dritten Band seiner Memoiren vollenden. „Ich bin froh, dass ich angesichts der Strapazen in meinem Leben gesund geblieben bin“, sagt er zum Abschied. „Vor allem bin ich fit für weitere Taten.“

Vor zwei Jahren veröffentlichte er den dritten und letzten Band seiner Lebenserinnerungen: „Erlebte Menschlichkeit. Erinnerungen“ (Band 23 der Sämtlichen Werke). Eigentlich sollte es sein letztes Buch werden. Doch wieder kam es wie so oft in Hans Küngs Leben anders. Im Herbst 2014 sorgte er erneut für Aufsehen. Nicht als Vatikan-Kritiker, sondern in eigener Sache. In einem Interview sprach er sich positiv „für ein selbstbestimmtes Sterben“ aus – das entspräche seinem Glauben.

„Glücklich sterben?“ – eine provokante Schrift

Der bald 87-Jährige leidet an Parkinson. Das Thema Tod und Sterben beschäftigt ihn nicht erst seit dem Buch „Ewiges Leben?“ (1982) und „Glücklich sterben?“ (2014), sondern seit Jahrzehnten. 1955 starb sein Bruder Georg mit 23 Jahren an einem Gehirntumor. So wolle er selbst nicht enden. Dieses Geständnis macht der Küng in dem 160 Seiten-Buch „Glücklich sterben?“ „Es gehört für mich zur Lebenskunst und zu meinem Glauben an ein ewiges Leben, mein zeitliches Leben nicht endlos hinauszuzögern“, schreibt er darin. Und fügt hinzu: „Jeder Einzelne hat das Recht, selber über sein Leben und sein Sterben zu bestimmen.“

„Ich habe keine Angst vor dem Tod und Sterben“, sagt Küng, der an einer unheilbaren Augenkrankheit sowie an Parkinson leidet und zudem Probleme mit dem Herzen hat. „Ich hoffe auf einen schönen Tod, aber das kann ich mir nicht auswählen. Ich möchte nicht, dass ich dahinsieche. Ich möchte den richtigen Zeitpunkt, um abzutreten nicht verpassen. Aber ich bin vorbereitet.“ Küng, der eine aktive Sterbehilfe befürwortet und eine Selbsttötung für christlich vertretbar hält, hatte im September 2014 ein viel beachtetes und diskutiertes Buch mit dem Titel „Glücklich sterben?“ veröffentlicht, in dem er ankündigte, dass er im Falle einer Demenz-Erkrankung selbst aus dem Leben scheiden wolle.

„Am Abend des Lebens“ ist das letzte Kapitel seiner Autobiografie von 2013 überschrieben. Seitdem ist er nur noch selten in der Öffentlichkeit aufgetreten. Das Gespräch am Dienstag umweht ein Hauch von Abschied. „Ich möchte so sterben, dass ich noch voll Mensch bin und nicht nur reduziert auf ein vegetatives Dasein“, schreibt er. „Wenn die Zeit gekommen ist, werde er seinem Leben aus krankheitsbedingten Gründen ein Ende setzen.“ An Aufrichtigkeit und Glaubwürdigkeit, Mut und Streitbarkeit hat es diesem großen christlichen Universalgelehrten noch nie gemangelt.