Reichert in seinem Element: der junge Radioreporter (rechts) interviewt Anfang der sechziger Jahre einen kleinwüchsigen Menschen vom Zirkus Althoff. Foto: privat

Hans-Dieter Reichert hatte viele Markenzeichen. Die Mütze war eines – nicht nur vor der Kamera beim Süddeutschen Rundfunk und später beim SWR. Mit der „Abendschau“ wurde er bekannt.

Korntal-Münchingen - Sechs Minuten dreißig war ein überlanger Film. Vier Minuten oder fünf waren üblich, und die einzelnen Szenen der Reportagen waren viel länger als heute, wo die Schnitte in kürzeren Abständen kommen. Die Abendschau, das Landesmagazin im Fernsehprogramm des früheren Süddeutschen Rundfunks, war lange sein Metier – als Moderator und Autor von Beiträgen. Er hat auch für andere Redaktionen des SDR und späteren SWR gearbeitet, im Radio und Fernsehen. „Wegen der Vielfalt der Themen wollte ich immer freier Mitarbeiter sein“, resümiert Hans-Dieter Reichert 14 Jahre nach seinem Abschied. Seit 1974 lebt der gebürtige Stuttgarter in Korntal – und hat sich immer noch nicht mit allen Einheimischen arrangiert. Stichwort Pietismus. Schnitt.

Stiefel, Jeans, Lederweste, Schiebermütze – auf Schwäbisch Datschkapp’ – so kannte man ihn. „I han ausseah wella wie a Cowboy“, sagt Reichert in breitem Gespräch. Aber weil man den hiesigen Dialekt als Hörer besser versteht wie als Leser, sind die weiteren Zitate in dieser Geschichte ins Hochdeutsche übersetzt. Reichert, der Radio- und Fernsehjournalist, sagt von sich selbst: „Ich bin in Stuttgart zweisprachig aufgewachsen: schwäbisch und hochdeutsch.“ Schriftlich kann er sich auf Hochdeutsch ebenso geschliffen ausdrücken wie mündlich im Dialekt. Früher waren es Filmtexte, heute sind es Leserbriefe an die Zeitung. Schnitt.

Schon als Zehnjähriger beim Kinderfunk dabei

Der Grundstein für Reicherts Karriere wurde schon als Kind gelegt. Bereits als Zehnjähriger war er beim Kinderfunk, später produzierte er auch eigene Beiträge für den Schulfunk. „Für eine Sendung hat’s fünf Mark gegeben.“ Dass er das Abitur machen konnte („wir waren einfache Leut’, mein Vater war Verwundeter vom ersten Krieg“), verdankte der 1935 Geborene einem Ressortleiter, der der Familie zu den Honoraren für den jungen Hans-Dieter noch 50 Mark Ausbildungsbeihilfe im Monat gab. Sonst hätte er das Friedrich-Eugens-Gymnasium verlassen müssen, und mit dem Journalistenberuf wäre es nichts geworden. 1955 ging der 18-jährige Abiturient als Lehrling zum Zeitfunk.

„Radioschwätzer“ hätten ihn seine Kollegen später genannt, als er neben dem Hörfunk noch beim Fernsehen anheuerte – als einer, der Land und Leute verstand. Eines lernte er da rasch: die bildhafte Sprache des Rundfunkreporters musste sachlich werden. „Du darfst im Film nicht erzählen, was die Zuschauer sehen.“ Und die Texte mussten so lange sein, dass sie auf die Filmszene passten. Da habe er schon mal für wenige Sätze einen ganzen Abend gebraucht – „oder zwei Viertele“.

Fernsehzuschauer kennen Hans-Dieter Reichert spätestens seit der Abendschau („Ich hab’ die krawattenlose Moderation eingeführt“). Die Namen des Teams der ersten Zeit Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre lesen sich wie ein Who is who des Stuttgarter Funkhauses: Ulrich Kienzle als Chef, dann Wieland Backes, Jo Frühwirth, Gerhard Konzelmann, Manfred Nägele und Hagen von Ortloff – alle wurden später mit eigenen Sendungen noch bekannter. Reichert galt damals schon als „der Alte“. Der ran musste, wenn es brenzlig wurde. Als Tandem-Fallschirmspringer. Oder im Zirkus, im Raubtierkäfig mit dem berühmten Tierlehrer Gerd Siemoneit-Barum. An diese Minuten erinnert sich der 81-Jährige, wie wenn es gestern gewesen wäre. „Siemoneit hat die beiden ruhigsten Tiger mit rein genommen, er stand zwei Meter hinter mir und hat gesagt, was ich tun soll. Mit dem Stock nach rechts deuten, einen Schritt nach links gehen, den Stock waagrecht halten. Die Tiger sind von Podest zu Podest gesprungen, haben sich auf dem Boden gewälzt.“ Angst? „Nur, als die Tiere durch den Tunnel gekommen sind, dann nicht mehr. Mein Kameramann hatte mehr Angst.“ Reichert versteht was vom Zirkus, hat viele Filme darüber gedreht. Was hält er vom Zirkus ohne Tiere? „Das ist Quatsch.“ Dies würden Ideologen fordern. Schnitt.

Mit den Brüdern nicht immer einig

Korntal. Reichert wohnt seit 42 Jahren in der Stadt, vom Balkon hat er das CVJM-Haus im Blick, früher noch den Turm des Großen Saals der Brüdergemeinde. „Ich habe nichts gegen Pietisten, wenn sie es nicht hervorheben. Ich werde aber grantig, wenn sie es betonen und man nicht merkt, dass sie Christen sind.“ Er sagt über sich: „Ich bin evangelischer Christ und zahle Kirchensteuer.“ Seine Meinung zum Missbrauchsskandal: warum schweige dazu die ganze Stadt? „Weil die Leute stockkonservativ sind. Auch wenn sie nicht betroffen sind, wollen sie das eigene Nest nicht beschmutzen.“ Dieses Verhalten findet er „krottenschwach“.

Dann erzählt er noch eine Geschichte, der Zuhörer sieht im Geiste einen Film. Reicherts Frau Kristina hatte mit zwei Brüdern der Gemeinde den Bau eines Spielplatzes gemanagt. Er selbst organisierte die Tombola zur Einweihung. Als Preise trafen drei Bierfässer ein. Alkohol ausschenken? Ein Riesenproblem für den Ober-Bruder. Man einigte sich: Ein Fass gab’s beim Fest, die anderen kamen ins Altenheim. Darüber hat Reichert aber keinen Film gemacht.

Das Gespräch mit ihm dauert schon zwei Stunden. Überlänge. Also: Schnitt.