Hans Christian Andersen, „Orientalisches Gebäude“. Scherenschnitt (1859) Foto: Odense City Museums

Jenseits von „kleiner Meerjungfrau“ und „Eiskönigin“: Die Bremer Kunsthalle zeigt, dass der Däne Hans Christian Andersen nicht nur Weltliteratur geschaffen hat, sondern auch noch ein bildender Künstler war.

Bremen - Er war ein großer Dichter – das werden wohl die meisten von Hans Christian Andersen wissen. Schließlich tummeln sich die Helden seiner Kunstmärchen – kleine Meerjungfrau, Nussknacker, Eiskönigin, Däumelinchen, die Prinzessin auf der Erbse, der Kaiser mit seinen neuen Kleidern, das Mädchen mit den Schwefelhölzern und wie sie alle heißen mögen – nicht nur munter in den Kinderzimmern und Kinderträumen dieser Welt, sondern werden auch vielfach zitiert und neu erdacht in Opern, Theaterstücken, Filmen, Songs, sind fester Bestand der Popkultur auch rund anderthalb Jahrhunderte nach dem Tod des Dänen.

Schon ein kleiner Kenner muss man sein, um zu wissen, dass Andersen bereits zu Lebzeiten ein veritabler Star des literarischen Betriebs und der feinen Gesellschaft war. Seine Bücher genossen große Nachfrage, außerhalb Dänemarks noch stärker als bei den eigenen Landsleuten. Rein äußerlich muss er nicht gerade der Hübscheste gewesen sein, aber ein glänzender Unterhalter, ein charmanter und geistreicher Gesprächspartner, der auf seinen geradezu rastlosen Reisen quer durch Europa nicht lange zu betteln hatte, um Quartier in guten Adressen oder doch zumindest eine Einladung zu den feinen Gesellschaften zu bekommen. Bezeichnend übrigens, dass es der Dichter bei solchen Abenden nach dem Aufheben der Tafel zumeist vorzog, den Damen im Salon statt den Herren beim Rauchen Gesellschaft zu leisten.

Aber wie groß wird das Erstaunen schon damals gewesen sein – und wie kaum weniger groß ist das Erstaunen darüber heute – , wenn der Dichter bei dieser Gelegenheit nicht nur anfing, eine seiner Geschichten vorzutragen, sondern plötzlich unter dem Tisch eine ansehnlich große Schere hervorzog, um damit schnellstmöglich aus buntem Papier kleine Figuren zu schneiden!

Der Künstler selbst sah sich als „Augenmenschen“

Im Hause des Münchner Malers Wilhelm Kaulbach ist das so geschehen, und dessen Tochter Josefa erinnerte sich später daran: „Wir saßen atemlos lauschend. Manche von uns verbargen heimlich ihre Tränen, denn wir erlebten auch Trauriges mit unserem Dichter, der da vor uns saß und mit seinen rastlosen Fingern die Schere dirigierte, um – Balletttänzerinnen auszuschneiden. Als er mit seiner Erzählung fertig war (oder endete er, weil er mit seinem Papier fertig war?), breitete er vor uns einen ganzen Zug ausgeschnittener Ballettmädchen aus, die sich an den Händen hielten, die Füße in der Luft, und Andersen war selig über sein gelungenes Werk. Er freute sich mehr über unser Lob darüber als über den Eindruck, welchen seine Geschichte gemacht hatte.“

„Hans Christian Andersen. Poet mit Feder und Schere“ heißt die Ausstellung in der Bremer Kunsthalle, die Seiten am und im Werk des dänischen Dichters offenbart, die zumindest dem deutschen Publikum bisher unbekannt sein dürften. Andersen, nicht nur ein Schriftsteller, sondern auch ein bildender Künstler? Er selbst sah sich ja als „Augenmenschen“, beschrieb seine Geschichten oft als „Malerei“ oder „Gemälde“. Und dass tatsächlich in der Art, wie er seine Geschichten aufbaut und erzählt, etwas stark Bildnerischer steckt, fiel zum Beispiel bereits Vincent van Gogh auf, der 1882 an einen Malerkollegen schrieb: „Findest Du nicht auch, dass die Märchen von Andersen herrlich sind? Ich bin sicher, er zeichnet auch Illustrationen.“

Nun, tatsächlich zeichnete Andersen oft, gern und viel, vor allem auf seinen Reisen, in einem Skizzenbuch: Stadtansichten, seine Quartiere, Natureindrücke, Zufallsbegegnungen. Er selbst sah sich hier allerdings als gänzlich ungeschulter Dilettant, der die Werke nur sehr ausnahmsweise mal einem Freund oder Bekannten zeigte. Und auch, wenn die Bremer nun eine Auswahl der kleinen Skizzen sehr feierlich in einem Saal aufgehängt und gut beleuchtet haben: Diese ganz sicher nie für eine Nachwelt gedachten Zeichnungen allein würden eine Andersen-Ausstellung in einem veritablen Kunstmuseum nicht rechtfertigen.

Andersens Scherenschnitte zeigen Schwäne, Ballerinen, Schlösser und stolze Schiffe

Dagegen ist der Wechsel hinüber zu den Scherenschnitten tatsächlich eine kleine Offenbarung, ein wahrer Fantasie-Flash. Da sehen wir nun tatsächlich Schwäne und Ballerinen, kecke Soldaten und frische Mädels, schöne Schlösser mit vielen Türmchen und stolze Schiffe unter vollen Segeln, und wir könnten uns wohl fast in all dieser kunstfertigen Possierlichkeit verlieren – registrierten wir nicht plötzlich auch die eine oder andere groteske Verfremdung, den einen oder anderen Besorgnis erregenden Zusatz. Der „Mühlenmann“ lächelt uns zwar freundlich zu, hält aber an seinem Rad wenig mitfühlend eine Ballerina am Fuß kopfüber. Aus dem Mund der breitköpfigen Teufelin mit ihren feschen Zöpfen ist gerade noch ein Kind zu erkennen, das sie just verschlingt. Und unter dem Motto „Herzensdieb“ hat Meister Andersen am 30. Juli 1856 in Dresden ein fantastisches Konstrukt geschnippelt, bei dem aus einem großen Herz ein Galgen erwächst, an dem gleich zwei kleine Menschlein jämmerlich stranguliert hängen. Was immer dem Dichter im sächsischen Sommer passiert sein mag, es kann kein Spaß gewesen sein.

Wie Schönheit und Schrecken ganz eng beieinander liegen, davon berichten nicht nur Andersens meisterhafte Geschichten, sondern auch diese Scherenschnitte – und noch mehr im weiteren Verlauf der Bremer Schau die abenteuerlich modern wirkenden Collagen, die er ganz privat für seine Patenkinder geschaffen hat, und die „Klecksographien“. So, auch das lernen wir in Bremen wie nebenbei, lautet der Fachausdruck für jenen künstlerischen Akt, bei denen man aus Tinten- und Farbklecksen kleine Fantasiewelten erschafft.

Träume und Albträume

Dass einem breiteren Publikum der Sinn für Andersens Bildwerke verloren gegangen ist, liegt vor allem am Kunsthistoriker-Dünkel zu Beginn des 20. Jahrhunderts, der seine Schöpfungen zwar als „liebenswürdig“, aber auch als „kunstlos und naiv“ abkanzelte. Dabei sind sie das nun definitiv nicht, weder kunstlos noch naiv. Sie sind vermutlich auch kein zentraler Baustein der abendländischen Kunstgeschichte, doch für Freunde und Bewunderer von Andersens Geschichtenwelt ein kostbares Mittel, dem Geheimnis auf die Spur zu kommen, warum uns just seine Märchen noch heute so seltsam nahe gehen können.

Eine kleine Figur hat er übrigens besonders gern geschnippelt: den Ole Luköie, das dänische Pendant zum deutschen Sandmann. Der trägt nicht nur eine Zipfelmütze, sondern vor allem einen Schirm, den er den schlafenden Kindern übers Gesicht hält. Brave Kinder sehen im Rund des Schirms Träume, die anderen sehen nichts. Wobei – Obacht! Die Träume der braven Kinder müssen keineswegs schön sein. Aber es gibt eben noch etwas schlimmeres als einen schlimmen Traum: nämlich gar keinen Traum.