Bürsten, Kleben, Nageln, Schneiden. Für Thomas Gerhard, ist jeder Tag anders, weil jeder Schuh anders ist. Foto: Björn Springorum

Bürsten, Kleben, Nageln, Schneiden. Für Thomas Gerhard, ist jeder Tag anders, weil jeder Schuh anders ist. Ein Ausflug in die Vergangenheit.

Stuttgart-West - Als erstes ist da dieser alles durchdringende Geruch. Kaum hat man die kleinen Stufen erklommen und die Tür hinter sich geschlossen, steht man sich mitten in einer Wolke aus Schuhcreme und Leder. Kein unangenehmer Geruch – im Gegenteil. Es riecht erdig, natürlich, nach altem Handwerk.

Dazu passt die Figur hinter der Theke. Da steht Thomas Gerhardt, den Kopf gesenkt, der Blick konzentriert. Er trägt eine abgewetzte Lederschürze und schleift Absätze an einem Paar Lederschuhe ab. Die Maschine surrt – eine orangefarbene alte Lady aus Stahl und poliertem Metall; Gerhardts Augen huschen an den Absätzen entlang.

Thomas Gerhardt ist Schuhmacher aus Überzeugung; sein kleiner Laden „Der Gestiefelte Gerhardt“ an der Bismarckstraße ist eines dieser Refugien, die man immer seltener in unseren Straßen sieht. Hinter der Theke die große Maschine zum Schleifen, Dehnen, Werkeln, überall an den Wänden reparierte oder lädierte Schuhe und alte Emailleschilder, dazwischen Werkzeuge und Lappen, über allem wacht ein schwarzer Kater aus Papier. Klar, bei dem Namen.

Wie das Märchen, so ist auch der Beruf etwas sehr Altes

„,Der Gestiefelte Gerhardt’ passte einfach“, erklärt der Schuhmacher. Gefunden wurde der Name bei einer Runde im Freundeskreis; Gerhardt selbst gefiel dieser märchenhafte Touch. „Wie das Märchen, so ist auch mein Beruf etwas sehr Altes – fast schon aus der Zeit gefallen.“

Das stört Gerhardt nicht. Im Gegenteil. „Es ist schade, dass immer mehr alte Handwerksberufe verschwinden“, sagt er und bürstet nachdenklich einen Schuh ab. Mittlerweile werde in seinem Beruf gar nicht mehr ausgebildet. In seinem geliebten Westen wird es so schnell keinen Engpass in diesem Handwerk geben. Gerhardt wird in wenigen Wochen 39 Jahre alt – und hat nicht vor, seiner Zunft jemals den Rücken zu kehren. „In meiner Gesellenzeit war durchaus mal der Wunsch da, etwas anderes zu machen, womit sich mehr verdienen lässt.“ Er hatte in Richtung der Automobilindustrie geschielt, ist rückblickend aber froh, seinem ersten Impuls treu geblieben zu sein. Die zahlreichen Stammkunden sind es auch.

Die Sache mit der Schuhmacherei begann schon in der Schule. Damals – bei einem Pflichtpraktikum – verschlug es den gebürtigen Münchener zu einem Cannstatter Schuhmacher. Er genoss die Arbeit mit dem Naturmaterial und profitierte von seiner handwerklichen Begabung. Danach war für ihn klar: Dieser Beruf sollte es sein. Er heuerte bei seinem Vorgänger Andreas Loidl an der Bismarckstraße an – und übernahm vor zehn Jahren dessen Geschäft.

Das Schönste an seinem Beruf ist die ehrliche Arbeit und die nahezu meditative Ruhe

Das alte Handwerk lebt schon noch. Man muss es nur wahrnehmen. „Die Wegwerfgesellschaft ermuntert eher dazu, Schuhe wegzuschmeißen und neue zu kaufen“, sagt Gerhardt und wendet sich wieder der Maschine zu. Neben dem auffälligen Gerät sind es vor allem Zange, Schere, Hammer und Kleber, die er für seine Arbeit braucht – und seine Hände natürlich. „Wofür hat man denn auch zwei Hände“, sagt er mit einem Lächeln. Das sei aber eh das Schönste an seinem Beruf: Die ehrliche Arbeit und die nahezu meditative Ruhe. „Und die Abwechslung. Kein Tag ist wie der andere, weil kein Schuh wie der andere ist.“

Thomas Gerhardt arbeitet stets allein in seinem Laden. Das stört ihn nicht, es gab noch keinen Tag, an dem er nicht gern seinen Laden aufgeschlossen hatte, erzählt er. Wenn abends oder an seinem freien Montag aus dem Gestiefelten Gerhardt wieder Thomas Gerhardt wird, hören seine Hände trotzdem nicht auf zu arbeiten: Er bastelt und heimwerkert, besitzt ein Gartengrundstück, auf dem er mit Hingabe Obst und Gemüse anpflanzt. Das ist alles, was er braucht – privat wie beruflich. „Ich vermisse nichts. Es ist gut wie es ist“, steht auf einem kleinen Stück Papier auf einer Anrichte. Ob das sein Credo sei? Er hält einen Moment inne. Nickt. „Uns allen würde es gut tun, mit dem zufrieden zu sein, was wir haben.“

Die Tür geht auf, eine Kundin kommt herein. Ob er sich diesen Ledergürtel mal anschauen könnte? „Aber natürlich“, sagt Gerhardt. Und macht sich an die Arbeit.