Szene aus Claus Peymanns Handke-Uraufführung am Wiener Burgtheater Foto: dpa

„Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße“ heißt das neue Stück Peter Handkes. In Claus Peymanns umjubelter Inszenierung am Wiener Burgtheater ist es eine drei Stunden währende Hommage an Poesie und Fantasie.

Wien - Da kommt einer und entwirft eine Welt. Wie von grober Zauberhand werden Versatzstücke einer gammeligen Bushaltestelle in den Raum geschubst, Stangen, verbeulte Mülleimer; der Boden tut sich auf und speit Krimskrams aus, eine Tonne, Bretter. Mit schwungvoller Geste zeichnet ein Mann eine weiße Linie auf den Boden, voilà, die Landstraße. Das Ich ist also schon mal da und die Landstraße. Die Unschuldigen und die Unbekannte, die fehlen noch, bis Peter Handkes jüngste Fantasie komplett in Bühnenrealität (Karl-Ernst Herrmann) umgesetzt ist.

Mit einem Simsalabim, einem leichthändigen Theaterkommentar beginnt Claus Peymanns Uraufführung von „Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße“ am Samstag im Wiener Burgtheater. Es ist Peymanns elfte Handke-Uraufführung seit der „Publikumsbeschimpfung“ 1966 in Frankfurt, die zugleich die erste Aufführung eines Handke-Stücks überhaupt war. Und 17 Jahre sind vergangen, seit der jetzige Chef des Berliner Ensembles an seiner früheren Wirkungsstätte ein Stück des österreichischen Autors auf die Bühne gebracht hat. Nicht immer wurde er für diese Inszenierungen geliebt. Nun nach drei Stunden: Nicht enden wollender Applaus für den texttreu inszenierenden Regisseur, für den Hauptdarsteller Christopher Nell. Und für den Autor, der immer auch auf die Kunst im Kunstwerk verweist, dem Zweifel, dem Unsagbaren nachlauscht.

Keine Rückkehr in Zorn für Claus Peymann

Damals war’s ein Wagnis, Handke aufzuführen, heute ist es keines mehr. Das Nichtwahrgenommen-Werden, das Missachtet-Werden von der Menge, das der Ich-Figur im aktuellen Stück zunächst widerfährt, ist etwas, das beide Künstler hinter sich haben.

Keine Rückkehr im Zorn also. Aber: Immer noch Sturm? Eher Verwirbelungen, auch Windstille. Nicht, weil es ein „Drama ohne Intrige“ ist, wie es im Text heißt. Peymann geht es einfach nicht um konkrete Seitenhiebe, Sticheleien. Er mildert, streicht konkrete Verweise auf Zorn von heute und gestern. Der Grundton variiert wenig, ist von klarem Dur bestimmt.

Die Unschuldigen, denen das Ich auf der Landstraße begegnet und die natürlich alles sind außer unschuldig, bleiben trotz knallfarbiger Kostümierung blass. Claus Peymann besänftigt aber vor allem die Ichfigur. Christopher Nell spielt den Clown. Ein Tramp in Pluderhosen, ein bisschen Chaplin, ein bisschen Buster Keaton, ein bisschen Dostojewskis „Idiot“, ein romantischer Taugenichts, gesellschaftliche Randfigur. Reine, Körper gewordene Literatur – großartig. Doch eben auch ein bisschen harmlos: Ein künstliches, sympathisches Wesen, ständig Schultern zuckend, mit den Armen rudernd, sich wundernd über alles und jeden. „Du liebe Zeit. Liebe Zeit? Ach, Leute. Leute? Liebe? Ach. Der Wind weht, wo er will? Schön wär’s. Schon war’s. ’s war einmal.“

Keine Bitterkeit, kein Hass. Selbst wenn er andere schmäht. „Ich möchte ja teilen, aber nicht mit euch Unschuldigen, euch Ahnungslosen, euch Unumgänglichen. Nicht mit euch, bei denen ständig was los ist, nicht mit euch, die ihr, kaum dass ihr auf zwei Beinen steht und die ersten Schritte tut, schon diabolisch zielbewusst seid.“ Er redet sich nicht in Rage, wirkt drollig wie ein altkluges Kind.

Noch einmal wird die gute alte Postmoderne gefeiert

Bei aller Leichtigkeit stellt sich allmählich Erdenschwere ein, wenn die Haltung des Ich zur Welt problematisch wird. Noch ist die Figur allein auf ihrer Landstraße, sehnt sich nach den anderen. Allerdings nicht nach denen, die da kommen. Die dauernd lachen, telefonieren, lärmen. Die freundliche Rolle, die das Ich sich selbst zuschreibt, kann es nicht erfüllen, weil die anderen ein Eigenleben entwickeln. Und seine Wortliebe nicht teilen, Erzählungen abschätzig kommentieren: „Kennen wir schon.“

Einer immerhin, Martin Schwab, Anführer der Unschuldigen, der mit zwei angesteckten Federn zum Häuptling wird, taugt zum Verbündeten. Bis eine Frau (Maria Happel) dazwischen geht: „Ein Rappelkopf! Einer, der alle und alles umarmen möchte – aber nur, wenn niemand da ist!“ Und auch die Unbekannte (Regina Fritsch), die er ersehnt und verfehlt, versetzt ihm, wie in der Regieanweisung gewünscht, „eine Art Stirnstoß, ihre Stirn gegen meine, so stark, dass es durch die ganze Landstraßengegend schallt“. Martin Schwab, Stimme des Pragmatismus, unterstellt dem immer müder und planlos ins Nichts blickenden Ich: „Du suchst Bedeutung um Bedeutung. Sinn um Sinn, hier auf der weltverlassenen Straße.“ Doch der stellt klar: „Im Gegenteil. Die letzte Bedeutungslosigkeit. Die ultimative Sinnfreiheit.“ Verfahrene Situation auf der Landstraße, der Kunst. „Nichts da. Kein Ende.“ Kein Ausweg, kein Weg. „Aporie, die Ausweglosigkeit.“ Das dramatische Ich kann nicht enden, muss aber doch. Handke bietet mehrere Schlüsse an. Freundliches Lebewohl, Theaterdonner, singender Gruß zum Abschied – „Ach ja. Ach, ja“. Lauter falsche Schlüsse. „Aber warum dieses Drama nicht enden mit der Öffnung hin zum Erzählen? Es handelt sich doch um keine Tragödie, nach der zuletzt alle verstummen. Ende offen, alles offen. Es ist freilich wahr: ich bin kein Mensch des Dramas.“

So wird noch einmal die gute alte postmoderne Philosophie gefeiert. Kein Ende, weil es nichts zu beenden gibt, kein konkretes Thema. Das Umkreisen einer Möglichkeit einer Geschichte, einer Liebe, eines Lebens ist prinzipiell unabschließbar. Und das macht ja einen Reiz aus des Stücks, dass man sich fragt, welche Geschichte sich da auftun könnte, und dass sich einer erlaubt, in Flüchtigkeit zu schwelgen und natürlich auch davon zu erzählen, dass die Unschuldigen, die Mehrheit wohl doch nicht immer wirklich unschuldig sind. Ein Stück frei von Theatermoden und Wünschen der Kommunalpolitik an das Theater.

Ein Gedicht über Figuren, die nicht wissen, was sie auf der Welt zu suchen haben. Ein Abend, der nicht fliegt, aber sanft über der Erde schwebt und die Sinnlosigkeit in Worte zu fassen versucht. Gerade so als wollte man einen Leuchtkäfer fangen in der Hoffnung, er möge in der Hand weiterleuchten. Peymann, an diesem Abend milde lächelnd, zeigt: das Ich, der Künstler, gilt den Unschuldigen als Idiot, weiß aber, die Welt ist noch idiotischer.

Weitere Aufführungen am 29. Februar, 6., 19. und 20. März, 1. und 2. April; Tickets unter: www.burgtheater.at.