Jochen Nägele (re.) jubelt mit Trainer Rolf Brack und Mitspieler Jens Schöngarth: In Liga und Europapokal hat der Rechtsaußen insgesamt schon 14 Tore erzielt. Foto: Baumann

Es hat etwas von einem modernen Handballmärchen: Der Rechtsaußen Jochen Nägele schafft mit 24 Jahren den Sprung in die Bundesliga, wirft jetzt Tore für Frisch Auf Göppingen und hofft auf den Einzug ins Final Four.

Göppingen - Jochen Nägele muss schmunzeln, wenn er auf eine mögliche Final-Four-Teilnahme mit Frisch Auf Göppingen angesprochen wird. Vor zwei Jahren hat er mit der SG Lauterstein einen Vereinsausflug zu diesem Fest des deutschen Handballs unternommen. „Es war grandios. Die Stadt, das Event, das ganze Drumherum“, schwärmt er. In diesem Jahr kann der Rechtsaußen plötzlich sogar eine Hauptrolle auf dem Spielfeld spielen. Ein Sieg fehlt noch. Wiederholt Frisch Auf den Bundesliga-Erfolg vom Sonntag (30:19) an diesem Dienstag (19 Uhr) bei der TSV Hannover-Burgdorf, dann sind die Grün-Weißen nach 2003, 2005 und 2011 zum vierten Mal beim lukrativen Spektakel in Hamburg am Ball.

Kiel und Flensburg statt Deizisau und Remshalden

Selbst wenn das nicht klappen sollte, Jochen Nägele kommt sich dennoch vor wie im Märchen. Am 20. Januar spielte er noch in der Baden-Württemberg Oberliga (BWOL). Die Gegner hießen TSV Deizisau, SV Remshalden oder TuS Steißlingen. Jetzt geht er in der stärksten Liga der Welt auf Torejagd. Gegen die Rhein-Neckar Löwen, Flensburg-Handewitt, den THW Kiel. Dazu kommen im EHF-Pokal Auftritte auf der europäischen Bühne. „Für mich ist ein Traum wahr geworden“, sagt er. Ermöglicht hat ihm den Rolf Brack. Der Göppinger Trainer baute dem 24-Jährigen nicht die Wendeltreppe nach oben. Er katapultierte ihn im Raketentempo ins Profigeschäft. Als sich nach Anton Halen auch der zweite (nachverpflichtete) Linkshänder Tomas Urban schwer verletzte, erinnerte sich Brack an den Mann aus dem Lautertal. Sein Sohn Daniel, Trainer beim TV Plochingen, hatte ihm den Rechtsaußen vom Oberliga-Rivalen empfohlen – schon vor einem Jahr. Da war Rolf Brack noch sportlicher Berater bei den DJK Rimpar Wölfen. Der Zweitligist lag damals aussichtsreich im Aufstiegsrennen, doch ein Wechsel ins Fränkische kam für Nägele nicht infrage, weil der Industriekaufmann seine Berufstätigkeit im Vertrieb komplett hätte aufgeben müssen. „Ich fühlte mich geehrt von der Anfrage, doch schweren Herzens habe ich mich dagegen entschieden“, erklärt der 1,89 Meter große Handballer.

Mit der Absage hatte er gedanklich mit dem großen Sport abgeschlossen, bis Brack einen zweiten Anlauf unternahm – in neuer Funktion als Frisch-Auf-Coach. Da musste Nägele nicht lange überlegen. Er bleibt ja in der Region und muss aus seinem Wohnort Salach mit seiner Verlobten Sina nicht wegziehen. Dieser verlockenden Kombination konnte er nicht widerstehen. Zumal es ihm sein Arbeitgeber ermöglichte, seine Tätigkeit auf 60 Prozent zu reduzieren.

Brack: „Jochen besitzt das Konter-Gen“

Für die stressige Doppelrolle opfert er nun fast ein Drittel seines Jahresurlaubs. Doch Erfolg und Erlebnis geben Jochen Nägele bisher recht. In vier Bundesliga- und vier Europapokalspielen erzielte er jeweils sieben Tore. „Es macht riesig Spaß“, sagt der Schwabe, dem die Frisch-Auf-Fans sogar ein eigenes Lied gewidmet haben. Auch Brack ist von seinem Neuzugang sehr angetan: „Jochen hat ein gutes Gefühl, wann er zum Gegenstoß loslaufen muss. Er besitzt das Konter-Gen.“ Weitere Stärken sind seine Grundschnelligkeit und die mentale Stabilität: Er lässt sich auch nach Fehlwürfen gegen Top-Torhüter nicht unterkriegen.

Dass solch ein Blitzaufstieg von der vierten in die erste Liga überhaupt möglich ist, liegt nicht nur an Nägeles Talent, sondern auch an seiner Position. Er spielt auf Außen. Und dort ist in dieser dynamischen Hochgeschwindigkeitssportart die Athletik und Körperlichkeit nicht so extrem gefordert wie im Rückraum oder am Kreis. Dort sind über Jahre antrainierte Nehmerqualitäten unabdingbar und für einen Sportler aus der Oberliga nur schwer aufzuholen. Das gilt auch für andere Profisportarten. Ausnahmen gibt es. Bekanntestes Beispiel für einen Spätstarter im Fußball ist Miroslav Klose. Er spielte nach der A-Jugend in der Bezirksliga, mit 20 noch in der Verbandsliga und stieg dann zu einem der weltweit besten Stürmer auf. Michael Schulz feierte sein Profidebüt beim 1. FC Kaiserslautern sogar erst mit 26 und wurde noch Nationalspieler.

TV Plochingen zeigt Interesse

Jochen Nägele ist froh, dass er es mit 24 in die Bundesliga geschafft hat. Doch er weiß auch: Sein persönliches Handballmärchen ist befristet. Es läuft mit dem letzten Spieltag am 3. Juni ab. Frisch Auf hat für die kommende Saison mit Marco Rentschler und Neuzugang Tim Sorensen bereits zwei Rechtsaußen unter Vertrag. Mehr ergibt wenig Sinn. „Es war von vornherein klar abgesprochen, dass ich mich am Saisonende wieder verabschiede“, sagt Nägele – ohne Wehmut. Zumindest derzeit noch. Wohin die Reise geht? Vielleicht bleibt er zumindest der Brack-Familie erhalten. Oberligist TV Plochingen zeigt starkes Interesse.