Es ist nicht die Frage, ob Holger Glandorf bei der WM in Frankreich fürs deutsche Team spielen wird, sondern ab wann. So lange aber ist der Linkshänder Kai Häfner auf seiner Position auf sich allein gestellt.
Stuttgart - Holger Glandorf (33) ist ein Spieler, der sich immer im Volldampf-Modus befindet. Ob es in der Bundesliga gegen Bittenfeld geht oder in der Champions-League gegen Barcelona, auf dem Spielfeld gibt der Linkshänder immer alles. Natürlich ist das im Dress der Nationalmannschaft ganz genauso. Bissig in der Abwehr, brandgefährlich im Angriff – so präsentierte sich der Mann von der SG Flensburg-Handewitt bei seinem Comeback mit dem Adler auf der Brust gegen Österreich. „Es war ein super Gefühl, mal wieder ein Länderspiel zu machen“, sagte er nach dem 33:16-Kantersieg. Über zwei Jahre nach seinem Rücktritt aus der Nationalmannschaft erzielte der reaktivierte Routinier in den 20 Minuten, in denen er spielte, drei Tore. Insgesamt 579 Treffer im Nationaltrikot hat er nach seinem 168. Länderspiel nun auf seinem Konto. Womit er mehr Tore erzielt hat als die restlichen sechs Rückraumspieler aus dem aktuellen 15er-Kader von Dagur Sigurdsson zusammen: Julius Kühn, Steffen Fäth, Paul Drux, Simon Ernst, Niclas Pieczkowski und Kai Häfner bringen es auf insgesamt 416 Treffer.
Glandorf wäre die ideale Entlastung für Häfner
Würde Glandorf auch bei der WM für Deutschland am Ball sein, die einzige Baustelle im Team wäre mit einem Schlag beseitigt. Denn in dem äußerst ausgeglichenen Kader herrscht vor dem Auftaktspiel an diesem Freitag (17.45 Uhr) in Rouen gegen Ungarn nur auf einer Position ein Engpass: im rechten Rückraum. Dort ist Häfner vorerst der einzige Linkshänder. Braucht der gebürtige Schwäbisch Gmünder von der TSV Hannover-Burgdorf mal eine Pause, kassiert er eine Zeitstrafe oder verletzt er sich, müssten drei Rechtshänder im Rückraum ran. Was die Laufwege in diesem entscheidenden Mannschaftsteil erheblich beeinflusst. „Es macht viel Spaß, mit Holger in einem Team zu stehen“, sagte Häfner nach dem finalen WM-Test. „Ich bin da, wenn der Trainer mich braucht“, sagte Glandorf. Sozusagen im Notfall. Doch den hat der Bundestrainer durch seine Nominierungsstrategie schon herbeigeführt. Ganz bewusst wahrscheinlich. Denn die einzigen Linkshänder, die Häfner hätten entlasten können, strich er aus dem Kader: Jens Schöngarth von Frisch Auf Göppingen auf den letzten Drücker, der aus Köngen stammende Nicolai Theilinger (HC Erlangen) hatte es nur auf die Liste der 28 Spieler geschafft, die vom Deutschen Handballbund (DHB) an den Weltverband IHF gemeldet wurden.
Also wird Sigurdsson Glandorf von Beginn an für sein Abschiedsturnier auf dem Zettel gehabt haben. „Wir wissen, dass Holger keine zehn Spiele innerhalb von drei Wochen mehr schafft – das müssen wir respektieren“, erklärte der Isländer. Das heißt im Umkehrschluss aber auch: Es ist nicht die Frage, ob Glandorf die Mannschaft bei der WM verstärken wird. Sondern ab wann. Zwei Varianten bieten sich an: vor den abschließenden Vorrundenduellen gegen Weißrussland und Kroatien oder erst nach der Gruppenphase, wenn es in den K.-o.-Spielen um alles geht.
Beide verbindet die Furchtlosigkeit, in kritischen Situationen die Entscheidung zu suchen
„Mit Glandorf und Häfner wären wir optimal aufgestellt“, sagt Ex-Bundesligatrainer Rolf Brack. Er hofft, dass der Weltmeister von 2007 möglichst bald bei der WM auftaucht. Beides sind unterschiedliche Spielertypen. Häfner, der sich unter Brack in Balingen entscheidend weiterentwickelte, ist der spielstärkere Mann. Der 27-Jährige setzt auch die anderen Rückraumspieler und den Kreisläufer gekonnt in Szene, seine stärkste Waffe ist der ansatzlose Schlagwurf aus dem Lauf. Glandorf besticht durch seine Dynamik und Wurfkraft. Keiner schraubt sich so hoch in die Luft beim Wurf wie er. Auch außerhalb des Platzes gibt es Unterschiede. Glandorf, der gebürtige Osnabrücker, ist ein kreuzbraver Typ ohne Allüren und Geltungsdrang, der Schwabe Häfner ist eine Spur lockerer, ein Sonnyboy, aber keineswegs überheblich und mit eiserner Disziplin ausgestattet. Was beide gemeinsam haben ist ihre Furchtlosigkeit, mit der sie in kritischen Situationen die Entscheidung suchen.
Das geht an die Substanz. Und dieses kräfteraubende Spiel war auch der Grund, warum Glandorf nach elf Jahren seine Nationalmannschaftskarriere 2014 für beendet erklärt hatte. „Ich brauche einfach mehr und längere Pausen. Mein Körper hat mir haufenweise Warnsignale gegeben“, sagte der Familienvater (zwei Söhne) damals. Nach drei infektionsbedingten Fußoperationen kurz hintereinander bekam er seinen Blutdruck nicht in den Griff. Eine verunreinigte Kortisonspritze – bei der Nationalmannschaft in die Ferse verabreicht – hatte eine Entzündung verursacht, kurzzeitig drohte sogar eine Amputation des Fußes. Längst ist alles wieder gut. Und die volle Konzentration auf seinen Verein hat ihm gutgetan. Jetzt hat er wieder Lust auf Länderspiele. Zumindest im Notfall. Und der ist ja bereits eingetreten.