Sieht die personelle Krise im deutschen Team als Herausforderung: Handball-Bundestrainer Dagur Sigurdsson. Foto: Getty

Taktische Kniffe, Teamgeist, Unbekümmertheit: Wie die deutschen Handballer bei der Europameisterschaft in Polen (15. bis 31. Januar) die vielen Ausfälle kompensieren wollen.

Stuttgart - Einen Isländer bringt so schnell nichts aus der Ruhe. Und trotzdem gibt es ein Thema, das Dagur Sigurdsson ziemlich nervt – dass er immer wieder darauf angesprochen wird, welche Spieler bei der EM in Polen (15. bis 31. Januar) fehlen. Und welche Gründe er dafür sieht. „Wir können nicht drei, vier Wochen darüber diskutieren, warum Verletzungen im Handball passieren. Und ich will auch nicht mehr über die Ausfälle sprechen“, sagt der Bundestrainer, dessen Team an diesem Dienstag (20.15 Uhr/Sport 1 live) in der ausverkauften Stuttgarter Porsche-Arena auf Tunesien trifft. Und nachdenken über die Misere möchte Sigurdsson auch nicht mehr. Weil er sich auf die EM-Vorbereitung konzentrieren will. Und weil es auch keinen Spaß machen würde – dafür ist die Liste der Ausfälle zu lang.

In Uwe Gensheimer (Wadenverletzung), Patrick Groetzki (Wadenbeinbruch), Patrick Wiencek (Kreuzbandriss) und Paul Drux (Schulter-OP) fehlen vier Stützen der Mannschaft, die bei der WM 2015 in Katar so positiv überrascht hat. Auch Michael Allendorf (Sehnenriss in der Hüfte) ist verletzt. Dazu kommen Profis wie Keeper Johannes Bitter oder Holger Glandorf, die zwar eine überragende Saison spielen, aber ihre Karrieren im Nationalteam beendet haben. Freiwillig verzichtet der Bundestrainer nicht nur auf Torhüter Silvio Heinevetter, sondern in Kai Häfner und Adrian Pfahl zum Beispiel auch auf den besten und den drittbesten Feldtorschützen der Bundesliga. Dennoch ist Sigurdsson zuversichtlich: „Der Kern meines Teams ist jetzt zwei Jahre zusammen, und wir haben in dieser Zeit nicht so viele Spiele verloren. Ich sehe keinen Grund, warum wir nicht auch weiterhin gut Handball spielen sollten. Wenn jemand so viele Ausfälle kompensieren kann, dann wir in Deutschland.“

"Die Unbekümmertheit macht dieses Team doch aus"

Das sieht auch Axel Kromer so. Der Co-Trainer von Sigurdsson macht eine einfache Rechnung auf: Würden nicht die besten 16 Spieler eines Landes um EM- oder WM-Titel kämpfen, sondern die stärksten 50, Gold ginge stets an Deutschland. „Keine andere Nation hat in der erweiterten Spitze eine größere Qualität“, sagt er, „deshalb ist auch kein Spieler unseres Kaders ein Notnagel. Die Öffentlichkeit macht sich viel mehr Gedanken über die Ausfälle, als wir es intern tun.“

Das stimmt, und dennoch lässt sich ein Problem nicht wegdiskutieren: Nach den Ausfällen von Gensheimer und Allendorf steht in Rune Dahmke nur noch einen Linksaußen zur Verfügung – und der plagt sich mit Beschwerden im Sprunggelenk herum. Dazu kommt, dass der 22-Jährige vom THW Kiel erst drei Länderspiele bestritten hat. Er selbst sieht das gelassen: „Die Unbekümmertheit macht dieses Team doch aus.“

Allein darauf will sich Sigurdsson aber nicht verlassen. Er weiß, dass es seinem Team an Erfahrung fehlt – nur Torhüter Carsten Lichtlein (201), Spielmacher Martin Strobel (109) und der neue Kapitän Steffen Weinhold (78) haben mehr als 40 Länderspiele auf dem Buckel. „Ich hätte auch gerne eine Mannschaft, die 1000 Länderspiele mehr absolviert hat“, sagt der Bundestrainer, „andererseits haben wir jetzt ein paar neue Waffen, die wir bisher nicht hatten.“

Zum Beispiel auf Linksaußen. Um nicht alleine auf Dahmke setzen zu müssen, wird es ein paar taktische Kniffe geben, die auch in Stuttgart gegen Tunesien getestet werden sollen. Die Deutschen wollen im Angriff öfter mit zwei Kreisläufern agieren oder auch mal mit einem großen Spieler auf Linksaußen, der über den Rückraum einläuft und so seine Wurfchance sucht. „Das sind spannende Varianten“, meint Sigurdsson, „ich sehe das eher als Herausforderung, als dass ich mir darüber Sorgen machen würde.“ Weil die Mannschaft trotz der vielen Ausfälle über ein großes Potenzial verfügt.

Was das für die EM bedeutet? Weiß keiner. Sigurdsson hütet sich davor, angesichts der schweren Vorrundengruppe mit den Gegnern Spanien, Schweden und Slowenien ein konkretes Ziel auszugeben. Ihm ist klar: Wenn’s mies läuft, kann schon nach der Vorrunde alles vorbei sein. Andererseits gibt es aber keinen Grund, zu pessimistisch zu sein. „Die Jungs, die da sind, werden ihre Chance nutzen“, sagt Torwart Carsten Lichtlein, „uns fehlt zwar das blinde Verständnis. Aber das werden wir durch Team- und Kampfgeist ausgleichen.“ Und wenn das gelingt, wird niemand mehr über die Spieler nachdenken, die nicht bei der EM sind. Weder teamintern noch in der Öffentlichkeit.