Der zweikampfstarke Paul Drux setzt sich im Testspiel gegen Island durch: Der Mann von den Füchsen Berlin bringt auf der Mitte-Position nicht die klassischen Spielmacher-Qualitäten mit. Foto: Baumann

An diesem Donnerstag (18.15 Uhr/ZDF) startet die deutsche Handball-Nationalmannschaft gegen die Niederlande in die EM – ohne klassischen Spielmacher. Macht dieser kreative Notstand den Medaillentraum nicht unrealistisch?

Stuttgart - Nach einem Spiel sagte Handball-Trainer Velimir Petkovic über Ivano Balic einmal: „Es war ein bisschen so, als würde man Gott bei der Arbeit zusehen, nur dass es nicht wie Arbeit aussah.“ Der kroatische Spieler war der Schöpfer genialer Momente. Wer ihn in seiner Mannschaft hatte, brauchte keine Spielzüge – er war der Spielzug. Mal zog er auf Rückraummitte die Fäden, dann zauberte er blitzschnell eine Idee für den Mitspieler hervor oder stellte mit einem explosiven Schritt in die Tiefe, im Kampf Mann gegen Mann Überzahl her.

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„Jedes große Team der Handball-Geschichte besaß ein solches Gehirn“, sagt Petkovic. Er ist so etwas wie ein Spezialist in Sachen Spielmacher. Er formte Markus Baur einst bei der HSG Wetzlar zum Weltklasse-Mittelmann, unter ihm gelang Michael „Mimi“ Kraus (wie Baur Weltmeister 2007) bei Frisch Auf Göppingen der Sprung in die Nationalmannschaft.

An diesem Donnerstag (18.15 Uhr/ZDF) beginnt für die Deutschen die Europameisterschaft mit der Partie gegen die Niederlande, wieder soll ein Spieler die Fäden ziehen, der aktuell unter Petkovics Führung steht: Paul Drux von den Füchsen Berlin. Der große Unterschied: Drux ist kein gelernter Spielmacher. Nicht alles und jeder bewegt sich so, wie er es will. Er ist nicht der geniale Virtuose, dafür hat er enorme Reißerqualitäten im Eins-gegen-eins und einen knallharten Wurf. Ein ähnlicher Typ ist Philipp Weber vom SC DHfK Leipzig. Auch er bringt weniger seine Nebenleute in Position, er wuchtet die Kugel lieber selbst ins Netz. Ähnlich verhält es sich bei Marian Michalczik (GWD Minden) – der dritte Mann, der bei der EM auf der Mitte spielen soll.

Kein Spezialist ist rechtzeitig zur EM fit

Besser: aushelfen soll. Denn all diese Spieler sind eigentlich auf der linken Rückraumseite zu Hause. Auf der Suche nach der goldenen Mitte bleibt Bundestrainer Christian Prokop nichts anderes übrig, als auf sie zu setzen. Denn es herrscht kreativer Notstand: Die Ausfälle der Spezialisten Tim Suton, Simon Ernst (beide Kreuzbandriss), Niclas Pieczkowski (Schulter-OP) standen lange fest. Prokops Wunschkandidat für die Position in der Schaltzentrale, der Balinger Martin Strobel, fühlte sich nach seiner Kreuzbandverletzung nicht fit genug für die Belastung einer EM. Linkshänder Fabian Wiede (im All-Star-Team der WM 2019) sollte übernehmen – doch er musste an der Schulter operiert werden. Steffen Weinhold, eine weitere Option, winkte wegen Fußproblemen ab. Genauso Franz Semper – krankheitsbedingt.

Bei so vielen Ausfällen im Rückraum und ohne gelernten Regisseur droht eine Reise ins Ungewisse – und es stellt sich die Frage: Geht es nicht vollkommen an der Realität vorbei, bei dieser EM von einer Medaille zu träumen? „Der Positionsangriff ist sicher unser größtes Problem, doch wir können auch mit diesem Kader eine gute Rolle spielen“, beschwichtigt Markus Baur. Vielleicht sei die Zeit der klassischen Spielmacher, wie er selbst einer war, im Handball vorbei. Er verweist auf die wurfgewaltigen Rückraumhünen Nikola Karabatic und Mikkel Hansen, die in der Mitte spielen, oft zwei Gegenspieler binden und so Überzahlsituationen herbeiführen. „Wer im modernen Handball für die Auslösehandlung zuständig ist, also die Spielzüge ansagt, ist nicht das alles Entscheidende“, meint Baur. Auch ohne einen Virtuosen in der Mitte könne man durch Positionswechsel im Rückraum, durch Kreuzen und Parallelstoßen Räume schaffen, Isolationen herbeiführen. Natürlich müssen dazu, resultierend aus starken Torwart- und Abwehrleistungen, einfache Tore über die erste und zweite Welle her.

Die Kroaten glänzen auf der Spielmacher-Position

Das alles ändert nichts daran, dass sich Deutschland schwertut, Strategen für die Spielmacherposition zu finden. Warum das so ist? Hört man sich in der Handballszene um, kommen interessante Antworten: Man lässt in der Jugend den Nachwuchs nicht seinen Spieltrieb ausleben. Wir sind zu solide. Eigenheiten werden nicht zugelassen. Südländer werden bejubelt, wenn sie einen Gegenspieler spielerisch vorführen, in Deutschland wird das eher als Hochnäsigkeit ausgelegt.

Kroatien bringt immer wieder geniale Spielmacher hervor. Für Vlado Stenzel, Deutschlands Weltmeistertrainer von 1978, liegt dies in der Mentalität begründet: „Der Kroate ist ein Geben-Mensch, berühmt für seine große Gastfreundschaft. Auch der Mittelmann muss mehr geben als nehmen.“

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Ein bisschen etwas sei dran an den Einschätzungen, meint Velimir Petkovic. Vielleicht habe man in Deutschland lange Zeit zu viel Wert auf Athletik gelegt und dabei „vernachlässigt, dass die Spieler das Spiel auch verstehen“. So wie das Ivano Balic einst in Perfektion tat.