Finn Lemke: der sanfte Riese mit Führungsqualitäten. Foto: Getty Images

Finn Lemke (23) ist innerhalb von drei EM-Spielen zum Abwehrchef des deutschen Handball-Nationalteams aufgestiegen. Er ist der aggressive Anführer des Mannschaftsteils, der darüber entscheidet, ob ein Team Großes erreicht – abseits des Feldes ist er ein sanfter Riese.

Breslau - Finn Lemke ist keiner, der gerne im Mittelpunkt steht. Doch unmittelbar nach dem 25:21-Sieg der deutschen Handballer über Slowenien und dem Einzug in die Hauptrunde, die an diesem Freitag mit dem Spiel gegen Ungarn (18.15 Uhr/ZDF) beginnt, drängten sich die Journalisten um den Handballer vom SC Magdeburg – so wie um Torhüter Andreas Wolff zwei Tage zuvor nach dem Erfolg gegen Schweden. Die Fragesteller schauten auf zu dem 2,10-Meter-Mann, und das lag nicht nur an dessen körperlicher Größe: Finn Lemke hatte gegen die Slowenen erneut eine außergewöhnliche Leistung abgeliefert.

Schon beim 27:26 gegen die Schweden war es der Magdeburger gewesen, der nach einer schwachen ersten Hälfte zusammen mit Wolff den Umschwung einleitete. Lemke erzielte keine Tore, Lemke setzte Zeichen. Er warf sich den Schweden entschlossen entgegen und symbolisierte mit seiner Gestik deutlicher als jeder andere auf dem Feld: Heute gewinnen wir. „Er ist unser aggressiver Anführer und Motivator, und er haut auch mal ordentlich drauf“, sagte Hendrik Pekeler, Lemkes Kollege aus dem Innenblock, „so wie früher Oliver Roggisch.“

Feuer in den Augen

Mit dem heutigen Teammanager als Abwehrchef gewann Deutschland bei der Heim-WM 2007 den letzten großen Titel. Nach dem Sieg gegen Slowenien drückte Roggisch seinen Nachfolger vor laufenden TV-Kameras erst mal kräftig, dann lobte er ihn: „Finn hat sich in diesen drei Spielen hier so entwickelt, wie ich es selten von einem Nationalspieler gesehen habe. Er hat ein unglaubliches Feuer in den Augen, ist unser neuer Abwehrchef, tut der Mannschaft richtig gut.“ Das findet auch Bundestrainer Dagur Sigurdsson: „Finn ist einer der Schlüsselspieler für unseren Erfolg.“

Im entscheidenden Duell gegen die Slowenen waren Lemke und seine Nebenleute von der ersten Minute an hellwach gewesen. „Du willst den ersten Zweikampf gewinnen, danach den nächsten, und irgendwann bist du drin im Spiel“, sagte Lemke später, „das Ziel muss immer sein, dass die Gegner keine Lust mehr haben, gegen uns in den Zweikampf zu gehen.“

Gefühlt hatte der deutsche Abwehrchef fast alle Eins-gegen-eins-Duelle für sich entschieden. Und jede gelungene Aktion feierte er, in dem er die Hände zu einer Faust ballte und die Arme in die Höhe riss. Lemke spielte nicht nur bärenstark, sondern er zeigte es auch: Seht her, an mir kommt ihr nicht vorbei. „Wenn wir als Bad Boys verschrien sein wollen, müssen wir hart spielen und dabei fair bleiben“, erklärte Lemke.

Wie ein Vulkan

Sein Auftreten gegen Slowenien glich der Eruption bei einem Vulkanausbruch, es war beinahe vulgär – und auch deshalb erfolgreich. Allerdings passt es überhaupt nicht zu seinem Verhalten außerhalb der Handballhalle. Bei keinem deutschen Spieler ist die Kluft zwischen dem privaten Menschen und dem Sportler ähnlich groß und faszinierend. Wenn das Adrenalin, das er beim Handball freisetzt, den Körper verlassen hat, ist Lemke zurückhaltend und beinahe schüchtern.

Einen Tag vor dem EM-Auftakt saß Lemke im Teamhotel, kaum einer interessierte sich für ihn. Ganz in Ruhe redete er über seine zweite Leidenschaft. Vor ein paar Monaten hat er an der Fachhochschule in Magdeburg ein Studium begonnen. Das Fach Soziale Arbeit ist kein Fernstudium, sondern erfordert Präsenzpflicht, was für einen Profi-Sportler eine große Herausforderung darstellt. „Es ist schwierig, aber es geht“, sagte Lemke, der genau weiß, was er beruflich machen will: „Ich möchte mit behinderten Menschen arbeiten.“

Soziale Ader

Bei diversen Praktika vor Beginn des Studiums hat er damit bereits begonnen und Bestätigung für seine Idee gefunden. „Das ist eine ganz andere Ebene als Leistungssport, es ist nicht nur dieser Mikrokosmos“, erklärte Lemke seine Motivation. Soziales Denken und dessen Umsetzung setzen Glückshormone bei dem 23-Jährigen frei, ähnlich wie ein gewonnener Zweikampf bei der EM.

Lemke braucht diese zweite Welt, weil er zu vielschichtig ist, um nur über sein Dasein als Profisportler Befriedigung zu finden. Und nur beide Welten zusammen können Finn Lemke treffend beschreiben. Er ist ein sanfter Riese im Leben – und ein Bad Boy auf dem Handballfeld.