Euphorie pur: Die deutschen Handballer feiern ausgelassen den Halbfinaleinzug bei der EM in Polen. Foto: Getty

Früher als geplant wirkt sich bei den deutschen Handballern die bessere Ausbildung auf die Qualität des Nationalteams aus. Sie ist das Ergebnis kluger Konzepte, die bereits bei dieser EM greifen. Am Freitagabend steht das Halbfinale gegen Norwegen an.

Breslau/Stuttgart - Bei den Spielern ist der Siegeshunger noch immer nicht gestillt. Sie wollen ins Finale. Sie wollen den Titel. Sie wollen auf den Thron. „Wenn wir jetzt nicht sagen, dass wir Europameister werden wollen, dann sind wir fast bescheuert“, sagte Torwart Andreas Wolff. Nur Bob Hanning blieb auch nach der Sternstunde gegen Dänemark (25:23) zumindest nach außen kühl wie ein Eskimo. „Um eine Weltklasse-Mannschaft zu sein, braucht man viele Weltklasse-Resultate. Jetzt schon von Weltklasse zu reden, finde ich viel zu früh.“ Der Vizepräsident des Deutschen Handballbundes (DHB) stellte aber auch klar: „Erfolge kommen nie zu früh. Alles, was man auf dem Weg mitnehmen kann, sollte man mitnehmen.“ Der Weg soll 2020 mit dem Olympiasieg in Tokio enden. Mit diesem mittelfristigen Ziel waren Hanning und Bundestrainer Dagur Sigurdsson 2014 angetreten.

Nun ist die Nationalmannschaft plötzlich ihrer Zeit voraus. Das liegt an Taktikfuchs Sigurdsson und seinem großartigen Coaching. Seinem feinen Händchen für Talente und seinem Mut, sie einzusetzen. Auch Glück gehört in diesen engen Turnierspielen in der Weltspitze dazu. Geht der Ball vom Innenpfosten rein oder raus? Pfeift der Schiedsrichter Stürmerfoul oder Freiwurf? Der entscheidende Punkt hat aber garantiert nichts mit Zufall zu tun: In der Nationalmannschaft gibt es inzwischen eine erstaunliche Breite an jungen Spielern mit Qualität, Stressresistenz und Persönlichkeit. Das ist das Ergebnis von klugen Konzepten. Sie wurden vor neun Jahren erarbeitet und Schritt für Schritt verfeinert.

Cachay: „Es geht einzig und allein über Leistung“

Ausgangspunkt war das Dauerthema: Wie schaffen mehr junge deutsche Spieler vorbei an den internationalen Stars den Sprung in die Bundesliga? Handball-Ikone Heiner Brand machte sich für eine Ausländerbeschränkung stark. Viele andere kämpften für den Nachwuchs um Quotenplätze, als ginge es um eine bedrohte Tierart. „Doch man kann deutsche Nachwuchsspieler nicht durch Regulierungssysteme in die Bundesligateams einschmuggeln“, sagt der Sportwissenschaftler Klaus Cachay, selbst ehemaliger Bundesligaspieler bei Frisch Auf Göppingen. „Es geht einzig und allein über Leistung.“ Mit anderen Worten: Will man jungen deutschen Spielern Einsatzzeiten verschaffen, dann muss man ihre Qualität steigern und sie besser ausbilden. Das ist nicht einfach, weil das Niveau in der Bundesliga weltweit am höchsten ist. „Im Basketball und Eishockey sind die stärksten Ligen der Welt in den USA, die stärkste Handball-Liga ist in Deutschland“, gibt Ex-Bundesligatrainer Rolf Brack zu bedenken. Also mussten Pläne her, um die Qualität herausragender Nachwuchsspieler deutlich zu steigern. Schnell standen die Kernkriterien fest: Statt permanent Spielzüge zu üben, wird das Einzeltraining erhöht und werden Krafttraining, individuelle Athletik und Dynamik in den Vordergrund gestellt.

Heuberger und Sommerfeld als geistige Väter des Umbruchs

An dieser Stelle kommen der ehemalige Bundestrainer Martin Heuberger und DHB-Sportdirektor Wolfgang Sommerfeld (früher Bundesligaspieler beim TSV Milbertshofen) ins Spiel. „Sie sind die geistigen Väter, die konzeptionellen Köpfe, die für den Umbruch stehen“, betont der ehemalige DHB-Präsident Bernhard Bauer, der selbst als Moderator der Arbeitsgruppe Strategie wertvolle Impulse gab. Die zwei wichtigsten Maßnahmen:

Eliteförderung: Damit entwickelte der DHB für besonders begabte Spieler ein Konzept, das eine optimale sportliche, schulische oder berufliche Ausbildung und persönliche Entwicklung dieser Toptalente gewährleistet. Von 40 zusätzlichen Einheiten pro Jahr berichtet Heuberger, in denen an den individuellen Fertigkeiten gefeilt wird. Mit Erfolg: „Wer unsere jungen Spieler bei dieser EM sieht, erkennt, dass sie körperlich und technisch reifer sind als früher, und sie haben das Herz am rechten Fleck“, findet Heuberger.

Jugendzertifikat: Dieses Gütesiegel für Erst-und Zweitligisten wurde 2007 eingeführt. Ziel des Jugendzertifikats ist die Sicherung qualitativer und kontinuierlicher Weiterentwicklung von Talenten in den Profivereinen. Die Clubs müssen zum Beispiel hauptamtliche Jugendtrainer mit entsprechenden Qualifikationen vorweisen. Ihre Nachwuchsteams müssen in den höchsten Spielklassen vertreten sein. Vereine, die das Jugendzertifikat nicht vorweisen können, zahlen in einen Fonds ein, dessen Mittel Projekten zugutekommen, welche die Nachwuchsarbeit im Handballsport allgemein fördern. Der Großteil der deutschen EM-Spieler sind Schüler der Leistungszentren.

„Die Einführung des Jugendzertifikats, der Nachwuchszentren und der Jugend-Bundesliga trägt Früchte“, ist sich Jürgen Schweikardt, Geschäftsführer des Bundesligisten TVB 1898 Stuttgart, sicher. „Clubs wie der THW Kiel oder Frisch Auf Göppingen haben dadurch erst mit einer professionellen Nachwuchsförderung begonnen.“

Für die Vermarktung braucht es neue Helden

Aus diesem Bündel von Maßnahmen resultiert eine sehr gut ausgebildete Breite an qualitativ starken Spielern, von denen die A-Nationalmannschaft nun früher als erwartet profitiert. „Andere Nationen könnten so viele Ausfälle nicht kompensieren, da die Pyramide an Spielern viel schmaler ist“, betont Brack, „nirgendwo ist die Perspektive so gut wie bei uns.“ Würde jetzt noch der unverhoffte EM-Titel in Polen dazukommen, wäre das ein Glücksfall für die Sportart und deren Vermarktung. Der Handball hätte neue Helden, die es braucht, um ein breites Publikum zu begeistern.