Steht unter Druck: Carsten Lichtlein, Torhüter der deutschen Handball-Nationalmannschaft. Foto: Baumann

Es gibt im Handball keine Position, die wichtiger ist als die des Torwarts. Weshalb sich Bundestrainer Dagur Sigurdsson nach dem Test in Stuttgart die Frage stellen dürfte, ob sein Team mit Carsten Lichtlein und Andreas Wolff für die EM gut genug aufgestellt ist.

Stuttgart - Achtes Spiel, achter Sieg: Die stets ausverkaufte Stuttgarter Porsche-Arena ist das Wohnzimmer der deutschen Handballer. Auch nach dem 37:30 (20:18) gegen Tunesien am Dienstagabend war die Stimmung unter den 6050 Fans prächtig, die vielen Autogrammjäger bedrängten die bärenstarken Rückraumwerfer Christian Dissinger (8 Tore), Steffen Fäth (6) und Steffen Weinhold (5) nach dem Schlusspfiff mehr als zuvor die tunesischen Abwehrspieler. „Wir sind in der Offensive mittlerweile sehr flexibel“, sagte Bundestrainer Dagur Sigurdsson zufrieden und lobte sein Team kurzerhand im Stil von Bayern-Coach Pep Guardiola: „Wir haben einen super, super Angriff gespielt.“

Alles bestens also vor der EM in Polen, die am 15. Januar beginnt? Nicht ganz, und das hat nichts damit zu tun, dass Sigurdsson nach den Verletzungen von Uwe Gensheimer und Michael Allendorf gegen Tunesien ohne gelernten Linksaußen auskommen musste. Einerseits funktionierte die taktische Variante mit zwei Kreisläufern ganz gut, andererseits dürfte Rune Dahmke, der letzte Linksaußen im Kader, seine Blessur am Sprunggelenk bald überstanden haben – in den beiden Testspielen an diesem Wochenende in Kassel und Hannover gegen Island soll der 22-Jährige vom THW Kiel wieder voll einsatzfähig sein. Wesentlich sorgenvoller blickte der Bundestrainer deshalb drein, als die Rede auf seine Abwehr kam.

Der entnervte Lichtlein muss auf die Bank

Nach sieben Minuten hatten die Deutschen gegen den neunmaligen Afrika-Meister schon sieben Gegentore kassiert, die Abstimmung zwischen Innenblock und Keeper passte überhaupt nicht. Carsten Lichtlein, der bis dahin noch keinen Ball berührt hatte, musste sich entnervt auf die Bank setzen. Kollege Andreas Wolff parierte bis zur Pause allerdings auch nur zwei Würfe. „Wir haben in der ersten Hälfte 18 Treffer zugelassen, das sind viel zu viele“, meinte Rechtsaußen Tobias Reichmann, „eigentlich sind unser Ziel 20 Gegentore im Schnitt.“

Pro Spiel, nicht pro Halbzeit.

Nach dem Wechsel, als die Tunesier abgesehen von ihrem Rückraumstar Wael Jallouz (FC Barcelona/ 9 Tore) nicht mehr so druckvoll agierten, stand die Abwehr besser. Allerdings benötigte der ins Tor zurückgekehrte Carsten Lichtlein (35) weitere zwölf Minuten, um seinen ersten Ball zu halten – einen Siebenmeter. Dem Jubel folgte aber prompt die Ernüchterung: Die Tunesier verwandelten den Nachwurf. Erst in der Schlussphase fand der 2,02-Meter-Mann in seinem 202. Länderspiel besser in die Partie. Zu spät, um den Bundestrainer noch zu versöhnen. „Die Leistung der Torhüter war vor allem in der ersten Hälfte nicht gut genug“, kritisierte Sigurdsson, „beide können sicherlich mehr.“ Und beide werden gegen Island unter besonderer Bebachtung stehen. Denn der Bundestrainer treibt ein riskantes Spiel.

Bei der Nominierung seines Kaders hat sich Sigurdsson gegen Silvio Heinevetter entschieden. Das kam überraschend, aus mehreren Gründen: Heinevetter ist einer der letzten Stars des deutschen Handballs, hat schon bei mehreren Großveranstaltungen seine Klasse bewiesen und war jahrelang die Nummer eins unter Sigurdsson, als der Isländer noch die Füchse Berlin trainierte. Allerdings ist Heinevetter nicht endgültig ausgebootet. Er gehört zum Kreis der Ersatzleute, die noch für die EM nachnominiert werden könnten. „Ich habe mich nicht gegen ihn entschieden“, sagte Sigurdsson, „sondern für Lichtlein und Wolff. Beide haben bisher eine sehr stabile Saison gespielt.“

Lichtlein spürt den Rückhalt von Bundestrainer Sigurdsson

Nun hofft der Coach, dass das Duo schnell wieder zu seiner Form zurückfindet. Denn natürlich weiß auch er: Eine EM kann vielleicht sogar ohne erstklassigen Linksaußen ein Erfolg werden, aber sicher nicht ohne erstklassige Torhüterleistungen. Das ist auch Carsten Lichtlein klar, der nicht nur Europameister (2004) und Weltmeister (2007) wurde, sondern im Nationalteam auch mit Weltklasse-Leuten wie Henning Fritz, Johannes Bitter oder eben Heinevetter zusammenspielte. Druck verspürt der Mann vom VfL Gummersbach trotzdem nicht. „Dagur Sigurdsson gibt mir die nötige Sicherheit, das war nicht bei allen Bundestrainern so“, sagte Lichtlein, „ich habe keinen Schiss davor, diese Verantwortung zu übernehmen. Das war doch bei der WM vor einem Jahr in Katar oder auch der EM-Qualifikation zu sehen. Ich muss jetzt eben diese Leistungen bestätigen.“ Gegen Island. Aber vor allem bei der Europameisterschaft in Polen.