Arzneimittel wirken oft länger als angegeben – trotzdem ist Vorsicht geboten Foto: Fotolia

Die Hausapotheke ist gut gefüllt, doch bei vielen Arzneimitteln ist das Verwendbarkeitsdatum überschritten. Welche Mittel man nehmen kann und welche nicht, erklärt Pharmazeut Breitkreutz.

Herr Breitkreuz, ich frage mich immer, warum die Verfallsdaten für Medikamente so kurz sind. Liegt es daran, dass die Pharma-Industrie auf diese Weise besser verdient?
Das ist ein weit verbreitetes Vorurteil. In Wirklichkeit liefert der Hersteller Daten zur Wirksamkeit des Medikaments an das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte in Bonn oder die European Medicines Agency in London, die entsprechende EU-Behörde. Die legen das Verwendbarkeitsdatum fest. Das kann sich bei einem Medikament unterscheiden – je nach Klimazone. In den USA kann für Arzneimittel im feucht-heißen Florida ein anderes Haltbarkeitsdatum gelten als im kalten Norden. Zudem hat ein Unternehmen mehr davon, wenn ein Produkt sich länger hält – es dauert, bis die Arznei vom Aufdrucken des Haltbarkeitsdatums bis zum Patienten gelangt. Mit kürzerem Verfallsdatum riskiert man, dass große Mengen unverkäuflich werden.
Sogar Ohrstöpsel haben ein Verfallsdatum – ist das nicht ein bisschen übertrieben?
Solange die Packung verschlossen ist, mag das übertrieben wirken. Aber immer wenn ein Produkt direkten Körperkontakt hat, müssen die Hersteller ein Verwendbarkeitsdatum aufdrucken. Ohrstöpsel sind kein Arzneimittel, sondern ein Medizinprodukt. Das heißt, der Hersteller muss nicht mit der Behörde eine Verwendbarkeitsdauer festlegen, sondern das macht eine sogenannte Benannte Stelle, zum Beispiel der Tüv.
Was kann passieren, wenn ich eine Aspirin-Tablette nehme, die seit fünf Jahren abgelaufen ist?
Nichts Schlimmes, weil der Wirkstoff Acetylsalicylsäure, also ASS, sich zersetzt in zwei ungiftige Produkte: Die Salicylsäure, die sogar weiterhin als schwaches Schmerzmittel wirksam ist, und die Essigsäure. Die Tablette schmeckt und riecht vielleicht nicht mehr so gut, und die Dosierung des ASS wird etwas niedriger sein. Aber das ist alles.
Also könnte Aspirin durchaus eine längere Verwendbarkeit haben?
Der Streit ist entschieden: Mehrere Firmen haben gegen zu kurze Haltbarkeit ihrer Produkte prozessiert – meistens haben sie allerdings verloren. Die Gerichte urteilten: Die Produkte dürfen kein Verwendbarkeitsdatum länger als fünf Jahre haben, weil sich der Stand des Wissens in der Zwischenzeit ändern kann. Vor wenigen Jahren hat man noch nicht gewusst, wie stark und lang anhaltend ASS die Blutgerinnung hemmt. Das heißt, auch die Nebenwirkungen, wie beispielsweise Magen-Darm-Blutungen, und die Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten sind früher nicht entsprechend in der Packungsbeilage erwähnt worden.
Wenn ich weiter meine Hausapotheke durchgehe – reines Vitamin C in Pulverform, vier Jahre abgelaufen. Ist das bedenklich?
Vitamin C wird abgebaut mit der Zeit, aber die Abbauprodukte kommen auch in der Natur vor und sind unschädlich. Ich persönlich würde auch abgelaufene Vitamin-C-Produkte noch weiter verwenden.
Jodsalbe – 13 Jahre alt?
Es wird deutlich weniger Iod drin sein als damals. Es verdampft, vor allem an der Hinterseite der Tube durch die Falz. Gesundheitsschädigend ist es nicht, aber die Wirksamkeit wird schlechter sein. Gerade diese antiseptischen Produkte würde ich nicht mehr verwenden, weil ich nicht weiß, was damit passiert ist.
Aber ist es nicht besser, eine solche Salbe zu verwenden, als gar nichts zur Hand zu haben?
Häufiger ist doch Folgendes: Man hat eine Verletzung oder Erkrankung, gegen die man noch ein Medikament vom letzten Mal hat – was allerdings schon längere Zeit zurückliegt. Und dann verwendet man es eben nochmals. Die typischen Medikamente enthalten zum Glück in der Regel nicht die Arzneistoffe, bei denen toxische Rückstände bekannt sind. Es gibt aber auch Präparate, die harmlos erscheinen, es aber nicht mehr sind. Auch ich nehme gelegentlich abgelaufene Medikamente, aber ich weiß einiges darüber und überlege mir genau, welche.
Welche zum Beispiel würden Sie auf keinen Fall mehr einnehmen?
Augentropfen, die mehr als eine Dosis enthalten und die einmal geöffnet sind, darf man auf keinen Fall länger als bis zum Ende der angegebenen Aufbrauchfrist verwenden. Die Keimfreiheit wird nur für die Verwendbarkeitsdauer garantiert. Ich würde diese Augentropfen nicht mehr verwenden. Auch Codein-Säfte gegen Reizhusten habe ich früher einmal nach dem Verfallsdatum verwendet. Dann habe ich gelernt, dass darin ein Abbauprodukt entstehen kann, das krebserregend ist. Solche Säfte würde ich nach Ablauf des Verwendbarkeitsdatums meinen Kindern nie mehr geben.
Gibt es weitere Medikamente, bei denen nach Ablauf des Verwendbarkeitsdatums gefährliche Substanzen entstehen können?
Ja, zum Beispiel Hydrochlorothiazid, ein entwässernder und dadurch blutdrucksenkender Wirkstoff. Beim Abbau entsteht in Anwesenheit von Wasser oder Luftfeuchte Formaldehyd. Dieser Stoff kommt zwar auch im Körper vor, ist aber, wenn man einen gewissen Wert überschreitet, toxisch und krebserregend. Ob das in kleinen Mengen bei dauerhafter Anwendung ebenso ist, hat keiner untersucht, Kindern würde ich so etwas nie nach Ablauf des Verwendbarkeitsdatums geben.
Viele Firmen garantieren eine Wirksamkeit ihrer Medikamente von sechs Monaten. Warum ist diese Zeitspanne so typisch?
Es gibt einen Test zur Prüfung auf ausreichende Konservierung. Dort werden die fertigen Produkte absichtlich mit Keimen versetzt, die besonders gefährlich sind. Dann schaut man sich an, wie lange die Konservierungsstoffe in der Lage sind, diese Keime in ihrem Wachstum zu hemmen. Der Test dauert aber nur ein halbes Jahr.
Können Pharmafirmen damit durchkommen, längere Haltbarkeitsdaten zu bekommen oder zu verschweigen, wie toxisch das Nebenprodukt sein könnte?
Das wird in der Regel nicht publik, sondern in sogenannten Mängelrügen von der Behörde beanstandet. Aber: Die Behörden prüfen nach meinen Erfahrungen die Zulassungsanträge sehr gründlich. Der Arbeits- und Zeitaufwand ist gigantisch, was manchmal auch zu Klagen der Unternehmen führt. Ich denke, wir können uns auf die Behörden verlassen. Aber ausgeschlossen ist nie, dass nach der Zulassung noch herauskommt, dass es zum Beispiel toxische Nebenprodukte gibt. Oft weiß auch der pharmazeutische Unternehmer zum Zeitpunkt der Antragstellung davon nichts. So traurig das ist, aber manchmal zeigt sich ein Problem erst, wenn ein Arzneimittel bei sehr vielen Menschen angewendet wurde.