Stiller Protest: Am Ort der Katastrophe fordern Demonstranten die Aufklärung des Geschehens. Foto: Imago//Chris Jung

Nach der Halloween-Massenpanik in Seoul mit mehr als 150 Toten wächst die Wut auf die Politik. Es ist nicht die erste solche Tragödie.

Als Jun Choi seine Fotos vom Wochenende betrachtet, hat er einen Kloß im Hals. Nach kurzem Zögern drückte er an seiner Kamera die Lösch-Taste. Hunderte junge Menschen hatte der Fotograf bei den Halloween-Feiern in Seoul abgelichtet. „Die Leute sahen lustig und glücklich aus“, sagt Jun. Ein Graf Dracula war dabei, eine Hexe, ein Superman. Endlich, nach zweieinhalb Jahren Pandemie, konnten sie wieder ausgelassen feiern.

 

Was Jun Choi so belastete, war eine junge Frau, die sich als Engel verkleidet hatte. „Ich musste an den Moment denken, als ich sie fotografierte. Und dann dachte ich an das, was später geschah. Vielleicht ist sie jetzt wirklich ein Engel.“ Jun Choi, ein kräftiger junger Mann mit kurz rasierten Haaren und tätowiertem Hals, hat feuchte Augen: „Ich hätte die Fotos nicht behalten und mit dem Leid der Opfer Geld verdienen können.“

Der Fotograf ist erneut an diesen Ort des Vergnügens gekommen, der jetzt Sinnbild für eine vermeidbare Tragödie ist. Mindestens 156 vorwiegend junge Menschen starben inmitten von Halloween-Feiern bei einer Massenpanik im Seouler Partyviertel Itaewon. Fehlende Kontrollen, um die Menschenmassen auf den engen Straßen zu steuern, seien verantwortlich, heißt es.

Die Massenpanik rüttelt am Selbstbewusstsein Südkoreas

Es war das erste Halloween-Fest ohne Beschränkungen seit Beginn der Pandemie. Der Ansturm wurde aber nicht nur unterschätzt, sondern offenbar ignoriert. Am Abend gingen zahlreiche Notrufe bei der Polizei ein. Die Polizei aber blieb lange untätig, obwohl eine Abteilung in der Nähe des Unglücksorts stationiert war.

An der U-Bahn-Station Itaewon läutet ein auf dem Boden sitzender Mönch eine Glocke und klopft auf einen Metallstab, gibt der Trauer einen Takt. Um ihn herum breitet sich ein Meer weißer Blumen aus, am Geländer kleben bunte Zettel mit Trauerbotschaften. Die „Massenpanik von Itaewon“, wie die Katastrophe mittlerweile in den Medien bezeichnet wird, zieht längst politische Kreise. Nicht nur, dass Präsident Yoon Suk-yeol Staatstrauer verkündet hat. Rasch begannen hektische Versuche herauszufinden, warum die Offiziellen versagt haben. „Wir werden alles aufklären“, verspricht Yoon, „bis keine Zweifel mehr bleiben.“

Die Katastrophe rüttelt am Selbstverständnis, das Südkorea von sich als fortschrittlicher Industriestaat hat. Auch der Wirtschaftsminister ist ratlos. Auf der Invest Korea Week, einer internationalen Konferenz, wollte Ahn Duk-geun eigentlich nur über die starke Chipindustrie und die effiziente Bürokratie dozieren. Doch er wird gefragt, ob die Massenpanik nicht ein schlechtes Licht auf das ganze Land werfe. „Sie können mich beim Wort nehmen“, sagt der Wirtschaftsminister. „Die koreanische Gesellschaft wird nach dieser Tragödie eine sicherere und bessere werden.“ Man werde das Niveau eines Entwicklungslands verlassen.

Katastrophen sind in Südkorea nicht selten

Eigentlich ist man in Südkorea stolz darauf, eben kein Entwicklungsland mehr zu sein. Schließlich gelang hier einst ein beispielloser Aufstieg: Im Jahr 1953, als der Krieg mit Nordkorea in einem Waffenstillstand endete, hatte Südkorea noch zu den ärmsten Ländern der Welt gehört. Gut drei Jahrzehnte später war es dank kluger Industriepolitik und einer schnell lernfähigen Gesellschaft zu einem Industriestaat geworden. Kaum irgendwo ist das Internet schneller, die Smartphone-Dichte höher. Südkoreas reale Wirtschaftsleistung pro Kopf ist mittlerweile höher als die von Japan.

Und dennoch: Der Vergleich mit einem Entwicklungsland, der Wirtschaftsminister Ahn herausgerutscht ist, hat seine Gründe. Denn eine Tragödie wie die in Itaewon erschüttert Südkorea nicht zum ersten Mal. Immer mal wieder kommen zu viele Menschen bei Unfällen ums Leben, die in einem Technologiestaat nicht passieren dürften. Im Jahr 2005 starben elf Leute im Gedränge eines Konzerts in Sangju. 2014 ging das Passagierschiff Sewol unter, 306 Personen starben. Auch weil 250 davon Schülerinnen und Schüler aus einer unterprivilegierten Gegend waren, war der Protest groß. Die Regierung gelobte, dass fortan mehr auf Sicherheit geachtet werde. „Die Itaewon-Katastrophe zeigt, dass sich überhaupt nichts geändert hat“, kommentiert nun „Korea Times“.

Die Demonstranten in Seoul sind wütend

Wobei es ein Missverständnis wäre anzunehmen, Sicherheit habe in Südkorea keinen Stellenwert. Zu Demonstrationen für Arbeitnehmerrechte etwa rückt normalerweise ein großes Aufgebot an Polizisten aus. Und während der Coronapandemie griff der Staat entschlossen durch. „Es muss etwas mit den Prioritäten zu tun haben“, sagt Chris Ha in Itaewon. Am Abend steht er am Katastrophenort und hält ein schlichtes, schwarzes Schild hoch. „Es ist jetzt 18:34“, erklärt der 31-jährige Arzt aus Seoul. „Zu dieser Uhrzeit ging der erste Hilferuf bei der Polizei ein. Aber nichts geschah.“ Schwarz stehe für Fassungslosigkeit.

Chris Ha trägt eine dunkelgrüne Bomberjacke, weißen Mundschutz und ist unübersehbar wütend. „Wir erwarten Aufklärung“, sagt er in scharfem Ton. „Warum schützt der Staat nicht auch die Leben normaler Leute?“ Offenbar stehe die Polizei vor allem dann bereit, wenn die Interessen der Regierung oder der Industrie gesichert werden sollen. Wenn der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier von Donnerstag bis Sonntag Südkorea besucht, mangelt es kaum an Polizei. Zudem steht der südkoreanische Präsident Yoon in der Kritik, weil er den Sicherheitsapparat stark beansprucht. Kurz nach seinem knappen Wahlsieg im März verkündete der Konservative, dass er einen neuen Amtssitz beziehen würde, womit er anders als seine Vorgänger nicht mehr am Arbeitsplatz wohnt. Durch das tägliche Pendeln werden 700 Polizeikräfte beansprucht.

Die Älteren halten die Jungen klein

„Der neue Amtssitz des Präsidenten ist nur ein paar Minuten von hier entfernt!“, sagt Chris Ha. „Mir kann niemand erzählen, dass es uns an Polizisten in der Nähe mangelt.“ Ha war an dem Abend, als die feiernde Menge in Panik ausbrach, in einer Bar ein paar Blocks weiter. Auf seinem Heimweg näherte er sich der Katastrophenzone. „Es war surreal, wie in einem Zombiefilm. Meine Freunde und ich sahen verstört aussehende Menschen mit gruseligen Kostümen, wie sie davonliefen. Aber wir sahen keine Polizei.“

Es ist nicht zu erwarten, dass der Unmut über die politische Führung abnimmt. Nach dem Fährunglück der Sewol im Jahr 2014 brach eine riesige Protestwelle los, die im Nachhinein den Anfang vom Ende der damaligen Präsidentin Park Geun-hye bedeutete.

Wie der Arzt Chris Ha sieht auch Fotograf Jun Choi in der Massenpanik von Itaewon ein Problem der Ungleichheit: „Viele ältere Menschen mögen Itaewon nicht, weil es hier immer laut ist und die Leute feiern.“ Das sei richtig. „Aber ich liebe diesen Ort. Ich wohne hier um die Ecke und fühle mich wohl. In die Bars kommen all die jungen Menschen, die sich vom stressigen Alltag voller Hierarchien und sozialer Erwartungen erholen.“

Arbeitende in Südkorea genießen meist kaum zehn Urlaubstage pro Jahr, die Zahl jährlich geleisteter Arbeitsstunden liegt höher als in fast jedem anderen Industriestaat, Hierarchien sind meist starr. Wer jünger ist, hat in der Regel weniger zu sagen. „Und die Feiertage müssen wir mit der Familie verbringen, wo uns dann auch noch gesagt wird, wie wir zu leben haben“, so Jun Choi.

Deshalb sei ein Ort wie Itaewon so wichtig. „Für mich waren diese Menschen immer Opfer des harten Arbeits- und Alltagslebens.“ Wird jetzt ein ganzes Viertel zum Opfer? Jun Choi überlegt. „Ich glaube, Itaewon wird ab jetzt ein anderer Ort sein.“