Der islandische Autor Hallgrimur Helgason auf der Frankfurter Buchmesse Foto: dpa

Frankfurter Buchmesse: Autor Halligrimur Helgason über Besonderheiten des Gastlandes Island.

Frankfurt - Eine 80-jährige Frau, die in einer Garage mit einem Laptop lebt, ist die Hauptfigur des neuen Romans "Eine Frau bei 1000·" des 1959 in Reykjavâk geborenen Hallgrâmur Helgason. Derzeit ist der Isländer auf Lesetour, auch auf der am Dienstag eröffneten Frankfurter Buchmesse, auf der sein Land Ehrengast ist.

Herr Helgason, eine Begegnung mit den Beatles in den frühen 1960er Jahren in Hamburg schildern Sie so realistisch, als hätten Sie das selbst erlebt. Wie schaffen Sie das?
Ich versuche, die Figuren so gut wie möglich in der Realität zu verankern, und versehe sie gleichzeitig mit etwas Ungewöhnlichem, um sie interessanter zu machen. Es geht um die Balance zwischen: Ja, das könnte so sein, und nein, das ist zu ungewöhnlich.

Kennen Sie die Orte, die Sie beschreiben?
Ja, die meisten kenne ich, Hamburg kenne ich etwa durch meine Lesereisen. Ich nutze dann die Gelegenheit, vor Ort zu recherchieren. Kopenhagen kenne ich gut, vor einigen Jahren war ich in Südafrika. Das fließt in meine Bücher ein, so werden sie etwas globaler. Wobei es besser ist, erst darüber zu schreiben und dann die Orte zu besuchen. So ist die Imagination noch völlig frei, man kann die Dinge einfach mal geschehen lassen. Einiges kann man ja schon vorab recherchieren im Internet. Dort gibt es schon ganz gute Landschaftseindrücke. Wenn ich dann vor Ort war, korrigiere ich manchmal meinen Text, manchmal nicht, wenn die erdachte Geschichte zu schlüssig ist. Auch hier geht es darum, die Balance zu finden.

Wie lange haben Sie denn für Ihr aktuelles Buch recherchiert?
Nicht allzu viel, also zwei Jahre wären mir zu viel gewesen. Das vergleiche ich mit einem Hochspringer: Er hat gerade mal 20 Meter Anlauf und nicht mehrere Kilometer. Da würde er ja schon ganz erschöpft am Sprungpunkt ankommen.

Sie schreiben erstmals aus der Sicht einer alten Frau. Wie kam es dazu?
Ja, das ist ein sehr großer Wandel. Wobei schon in meinen ersten beiden Büchern Frauen im Mittelpunkt stehen. Sie sind allerdings noch nicht ins Deutsche übersetzt worden. Ein Problem war hier, erst mal den richtigen Ton zu finden. Ich war auf der Suche nach einem etwas altmodischen Schreibstil, in dem ich Worte aufgreife, die früher verwendet wurden, oder ich erfinde solche. Gleichzeitig sollte dies interessant und lustig klingen. Es waren etwa zwei Monate nötig, bis ich da die richtige Balance gefunden habe.

War da Ihre Großmutter das Vorbild?
Meine Großmütter sind gestorben. Das Vorbild für die Frau in dem Buch hat bis vor kurzem noch gelebt. Ich habe sie im Rahmen einer Wahlkampagne meiner Ex-Frau kennengelernt, die Politikerin ist. Sie lebte tatsächlich in einer Garage. Ich habe sie wie die anderen Bürger gefragt, ob sie die Sozialdemokraten wählt, und sie meinte, dass sie mit den Kommunisten nichts zu tun haben wolle. Sie erklärte, sie sei bettlägerig, habe aber einen Laptop, und wir haben uns mehr als eine Stunde unterhalten. Nachdem ein anderer Text fertig war, wollte ich sie besuchen, aber da war sie schon verstorben.

Haben Sie noch etwas herausgefunden?
Der erste isländische Ministerpräsident war ihr Großvater, ihr Vater hat mit den Nazis kollaboriert. Einiges davon habe ich verwendet, ihren Namen habe ich geändert, es wurde eine fiktionale Figur daraus. Aber sie ist meine Inspirationsquelle für dieses Buch gewesen.

Wie gelingt der Rollenwechsel?
Man macht es sich leichter, wenn man mit einer Frau zusammenlebt. Meine Frau hat mir da viel geholfen. Es geht mir da nicht um eine feministische Sicht, sondern eher um einen vergnüglichen Blick auf Männer, und das in einer Zeitspanne der vergangenen 100 Jahre.

Sie stammen von einer kleinen Insel fernab von anderen Ländern. Welche Bedeutung hat da das Reisen für Sie?
Reisen ist sehr wichtig für mich, da kommen mir häufig die besten Ideen. Etwa wenn ich allein in einem Hotelzimmer bin. Ich habe auch ein Sommerhaus auf einer kleinen isländischen Insel, da schreibe ich viel in der Einsamkeit. Das Schreiben wird intensiver.

"Sagas sind in unserem Blut"

Was bedeutet es für Ihr Land, Ehrengast der größten Buchmesse der Welt zu sein?
Es ist eine große Ehre. Unsere Literaturszene ist klein, aber wir sind mit leidenschaftlichem Herzen dabei und haben eine große literarische Tradition. Die isländischen Sagas wurden neu ins Deutsche übersetzt, wir haben viele Neuerscheinungen. Es ist erstaunlich, wie groß das Interesse der Deutschen an uns ist. Das ist mehr, als wir uns erhofft haben. Hoffentlich haben wir jetzt genügend gute Bücher da und enttäuschen die Leute nicht.

Wie viele Schriftsteller gibt es denn ungefähr auf Island?
Es werden wohl so an die 40 Autoren sein, die professionell arbeiten. Die Regierung stellt ein Grundeinkommen zur Verfügung, das hat sich in den vergangenen 20 Jahren bewährt. Vorher war unser Literaturnobelpreisträger Halldor Laxness der König, und der Rest war unbekannt. Heute werden mehr Bücher denn je aus dem Isländischen übersetzt.

Dann werden wohl so ziemlich alle isländischen Autoren in Frankfurt vertreten sein.
Nicht alle, aber die meisten. Wir kommen mit etwa 200 neuen Büchern. Ansonsten zeigen wir unsere zeitgenössische Kunst, unsere alten Sagas und präsentieren unsere Musik. Für eine Fotoausstellung wurden die Isländer aufgefordert, ihre Bibliotheken zu fotografieren. Es hat eine lange Tradition auf Island, dass alle eine eigene Bibliothek haben.

Wird denn in Island überhaupt viel gelesen?
Ja, wenn auch nicht mehr so viel wie früher, da machen sich Fernsehen und Internet bemerkbar. Das erfolgreichste Buch dürfte derzeit Facebook sein, dagegen müssen wir konkurrieren. Noch werden aber viele Bücher verkauft, wobei sie vergleichsweise teuer sind - sie kosten um die 30 Euro.

Und werden dann isländische Autoren gelesen oder andere?
Als ich aufgewachsen bin, beherrschten ausländische Autoren die Literaturszene. Heute ist das anders: Isländer belegen regelmäßig die Top Ten. Das hat sich auch in der Musik so entwickelt.

Wie sehen denn Lesungen auf Island aus?
Ein Literaturhaus haben wir nicht, wir lesen in Cafés, Buchläden oder - was ich schrecklich finde - in Supermärkten. Da kommen dann so zwischen 40 und 100 Leute, das ist in Ordnung für Island.

Das ist also schon ziemlich verschieden zu Lesungen im deutschsprachigen Raum?
Ja, ich gebe mir viel Mühe beim Lesen, ich schlüpfe in die Charaktere hinein, verändere die Stimme, ich lese mein Werk wie ein Schauspieler. So ist es etwas frustrierend, wenn hier ein anderer mein Werk liest. Aber ich werde ja auch immer eingeladen, etwas auf Isländisch zu lesen. Und ich lese auch einige Passagen auf Deutsch.

Wo können Sie noch auf Isländisch lesen?
Es gibt nur noch einen Ort auf der Welt, und das ist ein 500-Leute-Dorf in Kanada nördlich von Winnipeg. Das geht zurück auf Emigranten aus dem 19. Jahrhundert. Ein kleines Land mit einer Sprache, die außer uns keiner spricht - dieses Besondere ist aber auch zugleich unsere Stärke. Das unterscheidet uns vom Rest der Welt.

Werden Sie dann wenigstens eifrig übersetzt?
Es gibt Übersetzungen ins Skandinavische, Italienische, Tschechische, Polnische, ein Buch gibt es auch auf Koreanisch. Normalerweise kontrolliere ich diese Übersetzungen nicht, da käme ich sonst nicht mehr zum Schreiben. Eine Ausnahme ist jetzt "Eine Frau bei 1000·", da dies zuerst beim Stuttgarter Klett-Cotta-Verlag herausgekommen ist - vor dem isländischen Original.

Welche Rolle spielt eigentlich die Natur für das Lebensgefühl auf Island?
Hier entstehen alle paar Jahre neue Inseln und Berge, die Landschaft verändert sich immer wieder. Auf dem Kontinent zu leben ist für einen Isländer total langweilig. Auf Island wird er von seinem eigenen Land bestens unterhalten.

Und von den Sagas, die ja diese Naturgewalt auch thematisieren...
... ja, viele Leute lesen die Sagas heute gerne wieder. Sie sind noch sehr lebendig, nicht nur als Literatur, sie sind in unserem Blut. Selbst unser Polizeisignet hat einen Spruch aus einer Saga. Ich freue mich sehr, dass ich einer Nation angehöre, die an die Literatur glaubt und nicht an etwas mehr Zerstörerisches.