Schauspielerin Sandra Hüller und Regisseurin Justine Triet bei den Filmfestspielen in Cannes Foto: AFP/CHRISTOPHE SIMON

Die Vielfalt macht den Reiz der diesjährigen Filmfestspiele in Cannes aus. Dazu trägt Aki Kaurismäki mit seiner melancholischen Lovestory „Fallen Leaves“ ebenso bei wie Sandra Hüller in einem facettenreichen Beziehungsdrama. Und Natalie Portman läuft zu großer Form auf.

Was macht die Qualität eines gelungenen Festivalprogramms aus? Zur Halbzeit der diesjährigen Filmfestspiele in Cannes lässt sich festhalten, dass die Antwort einigermaßen simpel ist. Die richtige Mischung macht’s, und diesbezüglich wissen die Filme an der Croisette in diesem Jahr zu überzeugen. So feierten etwa nach thematischen Schwergewichten wie dem außer Konkurrenz laufenden Scorsese oder Jonathan Glazers außergewöhnlichem Holocaust-Drama „The Zone of Interest“ auch allerlei Geschichten Premiere, die kleiner und intimer, wenn auch nicht weniger dramatisch daherkamen.

Die österreichische Regisseurin Jessica Hausner etwa erzählt in „Club Zero“ von Teenagern, die immer weniger und irgendwann gar nichts mehr essen wollen. Kein unbekanntes Phänomen, doch hier ist es ausgerechnet eine neu angestellte Privatschullehrerin (Mia Wasikowska) – zuständig für einen Kurs in „bewusster Ernährung“ –, die ihre Schülerinnen subtil, aber zunehmend drängend dazu anstiftet, ohne dass die längste Zeit jemand davon Notiz nimmt.

„Club Zero“ – bis ins Kleinste durchkomponiert

Wie schon 2019 „Little Joe“ inszeniert Jessica Hausner diese erschütternde Geschichte höchst unterkühlt, formalistisch und visuell bis ins Kleinste durchkomponiert, und die Konsequenz, mit der sie diesen Ansatz durchzieht, ist bemerkenswert. Die daraus entstehende Künstlichkeit, die sich auch auf die Schauspielleistungen auswirkt, verhindert allerdings auch eine empathische Annäherung, was beim auf Genre-Elemente setzenden Vorgänger mehr Sinn ergab als hier.

Als deutlich zugänglicher erwies sich „Anatomie d’une chute“, der neue Film der Französin Justine Triet. Die hat nach „Sibyl“ erneut Sandra Hüller vor ihre Kamera geholt, dieses Mal für die Hauptrolle. Die Deutsche spielt eine Schriftstellerin in einem französischen Bergdorf, deren Mann nach einem Fenstersturz stirbt. Ein Unfall scheint es nicht gewesen zu sein, die Indizien für Selbstmord sind dürftig, und so steht sie schließlich als Hauptverdächtige vor Gericht.

Jede Minute ist spannend

Triet macht daraus mit leichten Hitchcock-Anleihen weniger einen Thriller als ein genau beobachtetes und vor allem enorm facettenreiches Gerichts- und Beziehungsdrama. Spannend ist das trotzdem jede Minute, nicht zuletzt weil Triet ein komplexes Hin und Her zwischen Wahrheit und Wahrnehmung entspinnt und sich ganz auf das (mehrsprachige!) Können ihre Hauptdarstellerin verlässt.

Mit nach „The Zone of Interest“ nun schon zwei Meisterleistungen im diesjährigen Wettbewerb sollte Sandra Hüller womöglich darüber nachdenken, ihren Cannes-Aufenthalt noch bis zur Preisverleihung zu verlängern.

Konkurrenz macht ihr dabei unter anderem Natalie Portman, die in „May December“ zu unerwartet großer Form aufläuft. Im neuen Film von Todd Haynes verkörpert sie eine Schauspielerin, die in den Südstaaten jene Frau aufsucht, in deren Haut sie demnächst schlüpfen soll. Gracie (Julianne Moore) saß einst im Gefängnis, weil sie als 36-Jährige ein Verhältnis mit dem 13-jährigen Joe (Charles Melton) hatte, dessen Kind sie hinter Gittern bekam. Das Skandalpaar von damals ist noch immer verheiratet und gibt dem Fernsehstar nun zögerlich Einblicke in seine Geschichte.

Beide Frauen spielen hinter makellos wirkenden Fassaden und seit Langem hochgezogenen Mauern nicht nur der jeweils anderen etwas vor, was Haynes zwischen Camp und Melodrama für ein Quasiduell nutzt, an dessen Konstellation auch Bergman oder Fassbinder ihre Freude gehabt hätten.

Hollywoods Abgründe

Ganz das Niveau früherer Meisterwerke wie „Dem Himmel so fern“ oder „Carol“ erreicht der US-Regisseur zwar nicht, doch es verstehen sich eben wenige so sehr auf die Arbeit mit Schauspielerinnen wie er, zumal wenn dann auch noch Hollywoods eigene Mechanismen und Abgründe Bestandteil der Geschichte sind.

Geradezu leichte Kost ist dagegen „Fallen Leaves“, der neue Film des Finnen Aki Kaurismäki, der damit bereits zum fünften Mal um die Goldene Palme konkurriert. Das mit viel deutschen Produktions- und Fördergeldern entstandene und mit 80 Minuten erfrischend kurze Werk ist eine ebenso entzückende wie melancholische Liebesgeschichte, nicht mehr und nicht weniger.

Fast alles ist typisch Kaurismäki

Ansa (Alma Pöysti) und Holappa (Jussi Vatanen) sind beide einsame Seelen in Helsinki, deren Zueinanderfinden durch verschiedenste Faktoren erschwert wird, von einer verlorenen Nummer über ein Alkoholproblem bis hin zu einem Unfall.

Fast alles daran ist typisch Kaurismäki: von den schweigsamen Figuren über die charmante Retroausstattung bis hin zum Einsatz von Musik und trockenem Humor. Nur dass die ganz reale Tagespolitik in Form von Radionachrichten zum Ukraine-Krieg Einzug hält, ist ungewohnt.

Aber warum nicht. Für den einzelnen Film gilt schließlich das gleiche wie für das ganze Festival: Für eine ideale Zusammenstellung brauchte es möglichst vielfältige Zutaten.