Die Scharia, ein islamisches Rechtssystem auf Grundlage des Koran, wird beispielsweise in Saudi-Arabien, Iran oder Sudan praktiziert. Foto: imago/ Bogodvid

Der türkische Justizminister verkündet einen Haftbefehl gegen einen jungen Islam-Kritiker. Dieser war vor Todesdrohungen ins Ausland geflohen.

In der Türkei ist eine Debatte um die islamische Scharia entbrannt. Justizminister Yilmaz Tunc persönlich verkündete den Haftbefehl gegen einen jungen Atheisten, der auf Youtube gegen die Scharia argumentiert und dabei auf die Ehe des Propheten Mohammed mit einem Kind verwiesen hatte. Der Youtuber floh vor Todesdrohungen ins Ausland. In der Türkei sprangen ihm islamische Theologen bei und wiesen darauf hin, dass er nur ein Hadith vorgelesen habe, eine Überlieferung aus dem Leben des Propheten. Der Justizminister legte nach und bestand darauf, dass der Atheist mit „diffamierenden Äußerungen“ über den Propheten die Grenzen der Meinungsfreiheit überschritten habe und bestraft werden müsse.

Diamond Tema heißt der Youtuber – kein Pseudonym, sondern sein wahrer Name. Auf seinem Youtube-Kanal, der fast eine Million Abonnenten hat, philosophiert der bekennende Atheist regelmäßig über Gott und die Welt. Meistens plaudert der 30-Jährige vor seinem Bücherregal allein vor sich hin, doch auf Wunsch seiner Fans ließ er sich kürzlich auf eine Diskussion mit einem anderen Youtuber ein. Mit einem 24-jährigen Islamisten namens Asrin Tok diskutierte Tema in der Youtube-Sendung „Yeralti“ (Untergrund) zwei Stunden lang über Religion und Gesellschaft – und über diese Unterhaltung zwischen den beiden jungen Leuten reden sich seither Politiker, Journalisten und Theologen in der Türkei die ergrauten Köpfe heiß.

Youtuber setzte sich vor dem Haftbefehl nach Albanien ab

Für die Einführung der Scharia in der Türkei trat Tok in der Sendung ein, also für die Einführung eines islamischem Rechtssystems auf Grundlage des Koran und der Überlieferungen aus dem Leben des Propheten, wie es etwa in Saudi-Arabien, Iran oder Sudan praktiziert wird. Diamond Tema führte die Gegenrede: Scharia sei inkompatibel mit einer modernen Gesellschaft. So würde es unter der Scharia keine Meinungsfreiheit geben. „Wenn wir jetzt unter Scharia leben würden, dann würden nach dieser Sendung die Köpfe rollen“, sagte er. Weit lag er damit nicht daneben: In sozialen Medien wurde Tema nach der Sendung gedroht, ihm solle dafür der Kopf abgehackt werden. Der Youtuber setzte sich noch vor dem Haftbefehl nach Albanien ab.

Inhaltlich ging es bei der Auseinandersetzung um einen alten Hut der Diskussion um den Islam und die Scharia, nämlich um die Heirat des Propheten mit seiner dritten Frau Aischa und deren Alter zum Zeitpunkt der Vermählung. Unterschiedlichen Quellen zufolge war Aischa sechs, sieben oder neun Jahre alt, als Muhammed sie heiratete; jedenfalls soll die Ehe vollzogen worden sein, als sie neun Jahre alt war. Seit Jahrzehnten streiten die Gelehrten um den Kontext dieser Überlieferung. Waren vor eineinhalbtausend Jahren die Mädchen mit neun Jahren geschlechtsreif? Wurde Aischa zunächst nur versprochen und erst später verheiratet? War die Kinderheirat ein vorislamischer Brauch, in den der Prophet hineingeboren wurde?

Kritik von fortschrittlichen Theologen

Um solche Argumente rang auch der Scharia-Anhänger Tok in der Diskussion; Tema fegte sein Gestammel vom Tisch. Der Prophet habe als erwachsener Mann ein neunjähriges Kind geheiratet, stellte Tema fest, das sei unmoralisch und werde von der Scharia erlaubt. Zum Beleg las er aus dem „Sahih al-Buchari“ vor, einer Sammlung von Überlieferungen aus dem Leben des Propheten, die als eine der authentischsten Quellen des Islam gilt. Die Ausgabe stamme vom staatlichen Religionsamt der Türkei, hielt er der Staatsanwaltschaft vor, als sie Ermittlungen wegen Volksverhetzung aufnahm.

Dass über eine Einführung der Scharia in der Türkischen Republik überhaupt diskutiert wird, empörte einige fortschrittlicher Theologen, die unter dem Titel „Scharia ist nicht Islam“ einen Appell veröffentlichten. Erstens gebe es keine Scharia, hieß es darin, es gebe nur verschiedene islamische Rechtsschulen, Auslegungen und Interpretationen. Zweitens könne keine dieser Scharia-Varianten den Bedürfnissen des Lebens in der Moderne entsprechen; die Ära des Propheten sei nicht auf die Gegenwart übertragbar. Zu den Unterzeichnern zählte der emeritierte Istanbuler Theologie-Professor Mustafa Öztürk, der nach Todesdrohungen wegen seiner kritischen Koranexegese vor dreieinhalb Jahren die Türkei verlassen hatte. Die Staatsanwaltschaft hätte ihre Ermittlungen gegen Asrin Tok einleiten müssen, der die Einführung der Scharia forderte, sagte Öztürk dem türkischen Fernsehen. Denn Tok habe damit zum Umsturz der verfassungsmäßigen Ordnung der Republik aufgerufen. Der Haftbefehl gegen den Islam-Kritiker Tema zeige, „dass wir es de facto mit der schleichenden Einführung einer türkischen Scharia zu tun haben“.