Lesenlernen muss sein, auch wenn das manchen Kindern schwer fällt. Foto: dpa

Ein Fünftel der Viertklässler kann kaum lesen. An Stuttgarter Grundschulen mühen sich die Pädagogen mit voller Kraft, den Kindern die Welt der Bücher nahezubringen – mit unterschiedlichen Methoden. Aber kann das bei den veränderten Rahmenbedingungen noch funktionieren?

Stuttgart - Wie kommt es, dass laut Internationaler Grundschul-Lese-Untersuchung (Iglu) knapp ein Fünftel der Viertklässler in Deutschland kaum lesen kann? Antworten darauf geben die Stuttgarter Schulamtsleiterin Ulrike Brittinger und drei Stuttgarter Grundschulleiter. Sie berichten vom verzweifelten Kampf, mit weniger Personal einer heterogenen Schülerschaft im Zeitalter des Smartphones die Welt der Bücher schmackhaft zu machen. Das Ziel ist klar, denn: „Wer gute Bücher liest, entwickelt auch einen besseren Schreibstil“, weiß Matthias Bolay, der Leiter der Eichendorff-Schule in Bad Cannstatt. Und: „Gute Leser sind zu 90 Prozent auch gute Rechtschreiber. Denn Kinder, die viel lesen, haben Bilder im Kopf von den Wörtern.“ Und sie verstehen Textaufgaben besser. Der Weg dorthin ist für viele Kinder holprig, obwohl an der Grundschule „viel mehr gemacht wird als vor zehn Jahren“, berichtet Bolay. Bibliotheksbesuche, Lesepaten, tägliches Vorlesen seien Standard.

Doch die Gesellschaft und die Rahmenbedingungen hätten sich verändert. Das bestätigt auch Angelika Müller-Zastrau von der Maria-Montessori-Schule in Hausen, wo jede Klasse eine eigene Bibliothek habe, jedes Buch mehrfach da sei und jedes Kind einen Bücherpass habe: „Die Grundschule ist ein Schmelztiegel – wir haben viele Kinder, die gar kein Deutsch sprechen in Klasse eins.“ Der Anteil derer mit Migrationshintergrund sei in den vergangenen 20 Jahren gestiegen, in der Montessorischule von 15 auf 70 Prozent – an anderen Schulen sind es bis zu 90 Prozent. In vielen Familien werde zu Hause nicht Deutsch gesprochen. Dazu kämen Inklusionskinder, die nur zeitweise von Sonderpädagogen unterstützt werden. „Es gehören zwei Lehrer in eine Klasse – dann könnten wir mehr bewegen.“

Schulamt: Die Grundschulen sind sparsam gehalten worden

Doch die Realität sieht anders aus. „Früher hatten wir einen Ergänzungsbereich für Förderstunden“, erinnert sich Bolay – „alles weggestrichen“. Hinzu komme der Unterrichtsausfall wegen der zu dünnen Vertretungsdecke. Ulrike Brittinger formuliert das so: „Die Grundschulen sind sparsam gehalten worden.“ Es gebe keine Differenzierungsstunden. Bei der Verteilung der Ressourcen spielten weder der Sozialdatenatlas noch die unterschiedlichen Bildungsvoraussetzungen der Schülerschaft eine Rolle. „Die Schule Im sonnigen Winkel kriegt dieselben Ressourcen wie die Bachschule in Feuerbach“, sagt Brittinger. „Es hätte mehr gemacht werden müssen“, findet die Schulamtsleiterin. Und, ja, natürlich sei Bildung eine Gemeinschaftsaufgabe, an der sich neben den Kitas vor allem auch die Eltern beteiligen müssten.

An der Eichendorff-Schule organisiere man alle drei Jahre ein Lesemusical – „ein toller Türöffner“, findet Bolay. Dennoch könne die Schule den Zugang zum Lesen nicht allein herstellen – „die ersten sechs Jahre vor der Schule sind prägend“, sagt Bolay. „Wer sein Kind stundenlang vor dem Fernseher parkt, muss sich nicht wundern, dass sich das Kind schwertut.“ Vom Konzept, wie früher jede Woche ein Diktat zu schreiben, sei er abgekommen. „Dafür kamen neue Sachen dazu: Präsentationen zum Beispiel.“

Pragschule erhält Extra-Lehrerstunden für Sprachförderung

An der Pragschule im Stuttgarter Norden setzt Rektor Peter Burkhardt seit 2004 auf eine verstärkte Sprachförderung. Die Extrastunden dafür bekommt die Schule vom Staatlichen Schulamt zugewiesen – trotz Lehrermangel. „Das ist das Einzige, was wir an Zusatzressourcen im Grundschulbereich haben“, sagt Brittinger. Die Ressourcen stammen aus einem Pool des Kultusministeriums, das dafür landesweit 180 Deputate bereitstellt. „Die werden nicht mit der Gießkanne, sondern nach Bedarf verteilt“, erklärt eine Ministeriumssprecherin. Von den 72 Stuttgarter Grundschulen hatte das Schulamt 20 aufgefordert, ein Konzept einzureichen – 16, darunter die Pragschule, kamen zum Zug.

Burkhardt ist für die Unterstützung dankbar: „Wir ziehen bewusst Kinder raus, die das brauchen.“ In Kleingruppen fasse man sie nach Themen zusammen, sei es für die Textaufgaben in Mathe, sei es für Rechtschreibung. Auf beides lege man an der Pragschule Wert. Mit der Methode des Silbenschwingens und der Lautgebärde für jeden Buchstaben habe man viel Erfolg und positive Rückmeldungen. Falsch geschriebene Wörter würden „rechtzeitig korrigiert, sonst verfestigt sich das“. Den Eltern empfiehlt er, sich schon mit Kleinkindern Bilderbücher anzuschauen.

Elternvertreterin lehnt Schreibenlernen nach Gehör ab

Das sieht auch die Vorsitzende des Gesamtelternbeirats der Stuttgarter Schulen so: „Man muss zu Hause mit den Kindern lesen – da sind die Eltern gefordert“, sagt Kathrin Grix. Dass manchen Kindern erst beigebracht werde, nach Gehör zu schreiben, funktioniere nicht bei allen Kindern. Eine einheitliche Lernmethodik gibt es bisher nicht. Allerdings kündigt eine Ministeriumssprecherin für das kommende Schuljahr einen verbindlichen Rechtschreibrahmen für die Klassen eins bis zehn an.