„Xerxes“ ist eines der genialsten Musiktheaterwerke von Georg Friedrich Händel. Foto: dpa

Wildes Wechselspiel zwischen Tragik, Komik und Wahrhaftigkeit: An der Oper Frankfurt geben Tilmann Köhler und Constantinos Carydis Händels „Xerxes“ als packendes Zeitstück.

Stuttgart - Das Ende ist immer heiter. Pack schlägt sich, Pack verträgt sich, was sich trennte, kommt wieder zusammen, und der subversiven Unterminierung der Herrschaftsverhältnisse durch die Kunst folgt im Finale das genaue Gegenteil, nämlich die nachdrückliche Bestätigung der bestehenden Verhältnisse. So ist das in der barocken Oper, so ist das auch in einem der genialsten Musiktheaterwerke, das Georg Friedrich Händel geschaffen hat. Dabei ist es ebenso paradox wie interessant, dass „Xerxes“ heute auch deshalb so aktuell und so unmittelbar packend wirkt, weil das Stück 1738 in London floppte. Die gebrochenen, einsamen Figuren, die offenen Formen, das Unentschiedene der Dramaturgie, die eher assoziativ gereiht ist als logisch aufgespannt, der oft kleinräumig vollzogene Wechsel zwischen Tragischem und Komischem, tiefem Gefühl, Ironie und derber Parodie: All dies hat man zu Händels Zeit nicht verstanden. Heute aber ist es uns nahe, und so ist „Xerxes“ jetzt auch an der Oper Frankfurt zu erleben: als Studie über traurige, einsame, selbstbezogene Individuen.

 

So stellt der Regisseur Tilmann Köhler zum Happy-End-Jubel von Instrumenten und Chor Elizabeth Sutphen auf den Steg, der am Sonntagabend den Orchestergraben von den Zuschauern trennt. Als Romilda, die von zwei Männern begehrt wird, singt die Sopranistin alleine vom Glück der Zweisamkeit, während hinten im Dunkel die anderen Bühnenfiguren schunkeln. Oder schwanken? Das Publikum ist der Sängerin näher als die Mitspieler, die Öffentlichkeit ist ihr einziges Gegenüber, und sie singt auf diese zu, als poste sie ihre private Meinung auf Facebook und warte nur auf die kollektiv-unverbindliche „Gefällt mir“-Bestätigung. Dann verteilen sich die Sänger im Raum. Nur Xerxes bleibt auf der Spielfläche zurück. Gaelle Arquez singt mit Hingabe, feinen Farben und großer Koloratur- und Phrasierungskunst die hochvirtuose Partie des Königs, der meinte, auch Gefühle beherrschen und befehlen zu können, und der jetzt hilf- und machtlos da steht. Nicht einmal die finale Affirmation gesteht der Regisseur dem Titelhelden zu: Verzweifelt führt Xerxes, während der Vorhang fällt, eine Pistole an die Schläfe.

Essensschlacht im Speisesaal

Sutphen und Arquez sind zwei wunderbare Sängerinnen in einer glänzenden Sängerbesetzung. Lawrence Zazzo (Arsamene), ein glühend agierender Countertenor mit schönem dunklem Fundament, gehört dazu, außerdem die spielfreudige, auch bei raschen Höhentönen bewundernswert präzise Louise Alder als Atalanta. Tanja Ariane Baumgartner als Amastre liefert in ihrer letzten großen Arie, während ihrer Rückverwandlung vom verkleideten Mann zur zerbrechlichen, verzweifelt Liebenden, ein packendes Meisterstück, und sowohl Brandon Cedel (Ariodate) als auch Thomas Faulkner in der lustigen Spielrolle des Elviro sind exzellent besetzt.

Es ist ein großer Abend der Sänger, und wenn Tilmann Köhler neben seiner Lust am wilden Wechselspiel zwischen Tragischem und Komischem, Wahrhaftigem und Gebrochenem nicht gelegentlich das Verhältnis von Aussage und theatralischen Mitteln ein wenig aus den Augen verloren hätte, indem er ohne wirkliche Notwendigkeit Live-Videos aus dem Off einspielen oder die Sänger mit den Leckereien im anfangs gezeigten großen Speisesaal herumwerfen lässt, dann hätte es auch ein großer Abend der Regie werden können. So wurde es immerhin ein ziemlich guter. Auf Karoly Risz’ halbrund gerahmter Spielfläche (Tür rechts, Tür links; der verbindende Tisch in der Mitte weicht am Ende im Raum verstreuten Stühlen) führt Köhler die Figuren oft ausgesprochen zwingend aufeinander zu und aneinander vorbei, inszeniert er ein Spiel der im Raum schwebenden Körper, deren Leben sich gleich dem elektrisch geladener Teilchen zwischen Anziehung und Abstoßung abspielt.

Das ist aber immer noch nicht alles, denn auch aus dem angehobenen Orchestergraben ertönt Wundersames. Am Pult des Frankfurter Museumsorchesters steht Constantinos Carydis, an dessen frühe Tage sich mancher Stuttgarter Opernbesucher noch gerne erinnern mag, und der hat die Musiker streng in Richtung historisch informierter Aufführungspraxis getrimmt, sodass die Bögen klirren und die Ecken und Kanten der oft überraschend kleingliedrig komponierten Musik, und vor allem der rhythmischen Bewegungen wirken wie aus hartem Klangstein herausgemeißelt. Bei manchem Einsatz und bei manchen sehr raschen Noten mögen nicht alle Musiker pünktlich hinterherkommen, aber der Gesamteindruck ist, auch im Zusammenwirken mit den vom Orchester farblich wunderbar gestützten Sängern, nicht nur beim großen Händel-Hit zu Beginn („Ombra mai fu“) exzellent. Die Heterogenität der Musik, das Nebeneinander des Unterschiedlichen: Unter Carydis wird es Ereignis, und immer wieder kommentiert das Orchester auf intelligente, oft gar witzige Weise das Bühnengeschehen mit improvisierten Gesten, feiner dynamischer Differenzierung und vielen sprechenden Klangfarben. Das Publikum jubelt. Es hätte „Gefällt mir“ geklickt.

Nochmals am 12., 15., 18., 21., 26. und 29. Januar